Anketten oder abkapseln

Digitalisierung
08.06.2018

 
Die einen halten die Blockchain-Technologie für maßlos überschätzt, andere heben sie in den Himmel. Viele KMU suchen Orientierung. die wirtschaft hat sich auf die Suche nach Chancen und Risiken der Technologie abseits von Kryptowährungen gemacht.

Es hat sich mittlerweile herumgesprochen, dass die Blockchain-Technologie nicht nur auf Bitcoin angewandt werden kann. Sie soll Unternehmen auch abseits von Kryptowährungen Vorteile bringen. Das World Economic Forum hat mehr als 800 CEOs und IT-Experten weltweit zur Blockchain befragt – mit dem Ergebnis, dass sie mehrheitlich damit rechnen, dass schon 2027 zehn Prozent der globalen Wirtschaftsleistung über Blockchains gespeichert und verarbeitet werden. Eine Zahl, die zeigt, wie groß die Erwartungshaltung ist. Doch während große Unternehmen schon Blockchain-Lösungen entwickeln, testen oder anwenden, herrscht bei den meisten kleinen und mittleren Betrieben noch Unsicherheit, ob und wie ihnen die Technologie nützen könnte.

Wolfgang Prinz, stellvertretender Leiter des Fraunhofer Instituts für Angewandte Informationstechnik (FIT), sagt: „Im Moment können wir beobachten, dass sich gerade die Großen darum kümmern, weil sie die Finanzmittel, die Rechenzentren und die IT-Fachleute haben.“ Für die Kleineren gilt das aber noch nicht. Prinz: „Wir müssen sehr viel stärker an die Mittelständler ran, denn ihnen wird die Blockchain eine ganz neue Möglichkeit bieten, sich in Netzwerken neu zu organisieren und neue Geschäftsmodelle zu finden.“ Im Mittelstand gäbe es also ein Riesenpotenzial durch den Einsatz der Blockchain-Technologie, aber: „Bei den mittelständischen Unternehmen herrscht noch einiges an Zurückhaltung. Sie entdecken das Thema gerade, aber sind noch nicht so weit, in die Technologie zu investieren.“ 

Kosten für Testbetrieb

Den Hauptgrund für die Zurückhaltung sieht Prinz darin, dass viele noch nicht wissen, was ihnen die Technologie konkret bringen kann. Und diese Vorsicht ist durchaus berechtigt. Denn günstig ist der Einstieg in das Themenfeld nicht. Prinz schätzt die Kosten eines Testprojekts auf rund 30.000 bis 100.000 Euro ein – mit dem Risiko festzustellen, dass die Technologie doch nicht für den eigenen Bedarf geeignet ist. Und das ist durchaus möglich, denn ein Allheilmittel ist die Blockchain nicht. Und stellt man doch fest, dass die Technologie für das eigene Unternehmen zukunftsfähig ist, gehen die Investitionen, zum Beispiel in ein Rechenzentrum, erst richtig los. Prinz vermutet, dass der Impuls von großen Einkäufern, etwa aus dem Automobilbereich, ausgehen werde, die in Blockchain-Lösungen investieren und von ihren Zulieferern erwarten, dass auch sie die Technologie einsetzen. 

Für wen ist die Technologie, die 2009 erstmals für Bitcoin eingesetzt wurde, also eine Chance? „Eine Blockchain hat immer dann hohe Relevanz, wenn Unternehmen in einem Netzwerk mit anderen zusammenarbeiten und ein gewisses Vertrauen über die Zuverlässigkeit der Daten eine Rolle spielt“, sagt Prinz. Im Grunde sei eine Blockchain „nichts anderes als ein irreversibles Kontobuch“. Alle Transaktionen in der Blockkette werden auf jedem einzelnen beteiligten Rechner exakt gleich abgespeichert. Sobald jemand an einem der Blocks herummanipuliert, stimmt der Hashwert der Kette nicht mehr, und damit ist klar, dass etwas nicht stimmen kann.

Auslöser für Digitalisierung

Ein Beispiel aus der Logistik: Im Fall von Unklarheiten über eine Lieferung könnte leicht der Nachweis erbracht werden, wann was geliefert wurde, weil die Daten sicher und an mehreren Orten gleichzeitig abgespeichert wären – natürlich automatisiert. Apropos Automatisierung: Unternehmen, die analysieren, ob eine Blockchain ihnen Vorteile bringen würde, entdecken häufig ein grundlegendes Problem: nämlich, dass sie generell Automatisierungs- bzw. Digitalisierungsbedarf haben. Prinz: „Die Blockchain ist oft ein Auslöser, um sich mit der Digitalisierung zu beschäftigen.“ 

Wenn Automatisierungsbedarf besteht, sind die Chancen hoch, dass auch eine Blockchain Sinn macht. Hier kommen etwa Smart Contracts (siehe Kasten S. 9) ins Spiel. Wenn sich Sensoren austauschen oder Maschinen einander Aufträge erteilen, wäre es gut, wenn die Smart Contracts, die bei jedem dieser Aufträge automatisch abgewickelt werden, in einer Blockchain gespeichert würden. Eine Möglichkeit ist auch der Einsatz im Urheberrecht, etwa in der Musik- und Videoindustrie, wo jedes Mal, wenn jemand einen Song oder Film online konsumiert, automatisch ein bestimmter Betrag an den Urheber geht. Bisher kümmern sich darum sogenannte Verwertungsgesellschaften, die das Geld einsammeln und verteilen. Solche Institutionen könnten obsolet werden. Ähnliches ist auch im Patentbereich vorstellbar oder bei Grundbüchern – wo auch schon einige Länder, etwa Griechenland, Schweden und Kenia, aktiv sind. Auch in Österreich kümmert sich das Bundesrechenzentrum um mögliche Anwendungen im öffentlichen Bereich. Die Blockchain-Technologie kann also in diversen Bereichen für Effizienz, Transparenz und Kostenersparnis sorgen.

KRITIKPUNKTE

Kein Mittelsmann Blockchain-Experten und -Fans erwarten, dass viele klassische Vermittlerposi-tionen wie jene eines Notars oder einer Bank nicht mehr nötig sein werden, weil es in Blockchains keine zentrale Stelle gibt. Der Nachteil: Wer reguliert, was in Blockchains vorgeht? Wo bleibt die Rechtssicherheit? Wer haftet und wie?

Falsche Daten Alles regelt die Blockchain auch nicht. Spielen etwa automatisierte Prozesse falsche Daten ins System, bleiben auch diese Daten für immer und ewig in der Datenkette. Auch menschliche Fehler, etwa ein Tippfehler beim Namen in einem Vertrag, können nicht rückgängig gemacht werden.

Bessere Lösungen Im Moment scheinen Blockchain-Lösungen als eine Art Allheilmittel gesehen zu werden – selbst für Probleme, von denen man noch gar nichts weiß. In manchen Bereichen sind Blockchains aber nicht so effizient wie zentralisierte Datenbanken. Neu ist nicht immer besser.

Noch wenige Erfahrungen Derzeit experimentieren vor allem große Unternehmen und Staaten mit der Blockchain-Technologie, d. h. der harte Praxisbe-weis steht noch aus – und es kann durchaus noch einige Jahre dauern, bis die Technologie wirklich ausgereift ist.

Zu energieintensiv Wer mit Bitcoin-Mining Geld verdienen will, braucht so viel Rechenleistung und folglich Strom und Kühlung, dass riesige Serverfarmen nötig sind. Doch in geschlossenen Blockchain-Systemen spielt Mining eine untergeordnete Rolle, daher sind Energiekosten kein so großes Thema wie oft befürchtet.

Über- oder unterbewertet?

Dennoch halten einige Kritiker die Technologie für überbewertet, unter anderem, weil bestehende IT-Lösungen, zum Beispiel zentrale Datenbanken, mitunter bessere Ergebnisse liefern können. Lukas Leys, Blockchain-Experte bei der Unternehmensberatung Capgemini, sagt dagegen: „In den meisten Indus-trien wird die Blockchain derzeit noch unterbewertet.“ Das liege einerseits an der geringen Erfahrung und dem oft niedrigen Wissensstand über die Technologie. „Dezentrale, vertrauenswürdige, transparente, nachvollziehbare, irreversible, manipulationssichere und zensurresistente Blockchain-Datenbanken haben disruptives Potenzial“, sagt Leys. 

Besonders in Smart Contracts, die auf der Blockchain-Technologie aufbauen, sehen die Berater von Capgemini enormes Potenzial, denn ihr Einsatz soll Kosten sparen und Prozesse beschleunigen. Ein Vorteil, den verschiedene Player nutzen wollen. So lässt sich derzeit beobachten, dass viele Konzerne, aber auch Staaten mit der Technologie experimentieren. Lukas Leys sieht für Blockchain- und Smart-Contract-Technologien in diversen Bereichen großes Potenzial. Vor allem in Industrie 4.0-Anwendungen, im Bereich Internet of Things, Mobilität, E-Government, Datensicherheit, Künstliche Intelligenz, Rechnungsprüfung, Lieferketten und Smart Property. Insbesondere für Mittelständler könnte interessant sein, dass etwa IT-Konzerne oder das europäische Bankenkonsortium Digital Trade Chain derzeit an Blockchain-Plattformen für KMU arbeiten. Aus Sicht von Lukas Leys gehören Initial Coin Offerings (ICO) zu den interessantesten Anwendungsgebieten für KMU in näherer Zukunft: Es handelt sich dabei um eine blockchainbasierte Form des Crowdfundings, die Unternehmensfinanzierungen ohne den klassischen Weg über Banken ermöglichen könnte. Eine ähnliche, aber stärker regulierte Finanzierungsform seien Security Token Offerings (STO), welche auch den Investoren mehr Sicherheit geben.

Privat oder öffentlich

Wichtig ist, zwischen öffentlichen und privaten Blockchains zu unterscheiden. Hinter Bitcoin etwa steckt eine öffentliche Blockchain: Das heißt, jeder darf daran teilnehmen und sich am Mining (siehe Kasten S. 9) beteiligen. Für Unternehmen sind aber eher private Blockchains interessant, zu denen nur bestimmte Personen oder Personengruppen Zugang bekommen. Diese privaten – oder auch „permissioned“ bzw. geschlossenen – Blockchains sind laut Leys oft geeigneter für Unternehmen und den staatlichen Sektor: Denn hier können Rollen vergeben werden, wodurch etwa auch Zuständigkeiten für Bereiche wie Datenschutz, Privatsphäre und industriespezifische oder staatliche Regulationen geschaffen werden können.

Eine offene Frage bei alledem ist, ob der Wegfall eines zentralen Ansprechpartners oder „Mittelsmannes“, wie es oft heißt, nicht auch Probleme mit sich bringen könnte. Banken, Zentralbanken, Notare, Institutionen wie Verwertungsgesellschaften und vertrauensbildende Plattformen aller Art sorgen für eine gewisse Stabilität und Rechtssicherheit zwischen Geschäftspartnern. Wenn sich nur noch eine begrenzte Anzahl an Personen oder Unternehmen die Regeln untereinander ausmachen, ohne dass etwa für eine Kreditvergabe ganz klare Regeln herrschen, wo kann dann etwa der Staat als regulierende Kraft ansetzen? Fragen, denen sich die Judikatur wird widmen müssen.

Bürokratie ersetzen

Als Jobkiller sollte die Technologie nicht betrachtet werden. „Blockchain wird den Beruf des Notars nicht ersetzen“, sagt Lukas Leys, „ihn aber wahrscheinlich wesentlich vereinfachen und Prozesse beschleunigen.“ Er glaubt, dass die Blockchain eine sichere Technologie ist, die „viele regulatorische und bürokratische Prozesse, die wir erschaffen haben, um Sicherheit zu geben und Betrug zu verhindern, ersetzen kann. Wenn etwa derzeit der Kaufvertrag einer Immobilie notariell beglaubigt sein muss, so müsste hier künftig die Rechtslage angepasst werden. Nicht vergessen dürfe man aber auch das Thema Haftung: „Wenn Käufer und Verkäufer direkt miteinander via Blockchain Verträge abschließen und hier rechtliche oder wirtschaftliche Fehler passieren, landet man in einem juristischen Graubereich, der derzeit noch nicht gelöst ist.“ 

Nicht zu vergessen ist auch, dass die Daten in einer Blockchain immer auch allen anderen Teilnehmern zur Verfügung stehen. Regeln der Zusammenarbeit braucht es also allemal. Wolfgang Prinz vom Fraunhofer-Institut FIT betont: „Man ist immer Bestandteil eines Netzwerkes und muss schauen: Wer sind die anderen Player im Netzwerk, und wie einige ich mich mit ihnen? Wie sieht der Betrieb, die Governance aus?“ Es müsse noch einiges an Erfahrung gesammelt werden.

Und was, wenn die Blockchain-Technologie das eigene Business bedroht? Prinz rät dazu, sich dem Thema proaktiv zu widmen: „Alle sollten schauen, wie sie die Blockchain für sich nutzen können. Auch die Banken entdecken das Thema für sich.“ So schätzt etwa die spanische Bank Santander, dass sie bis zum Jahr 2030 durch den Einsatz von Blockchain-Technik 20 Milliarden US-Dollar einsparen kann. Wenn ein Unternehmen also bemerkt, dass sein Geschäftsfeld von der Blockchain bedroht wird, dann habe es die Möglichkeit, „der Blockchain Routinearbeiten zu überlassen und sich auf die Steigerung des Services zu konzentrieren“. Klingt aus unternehmerischer Sicht interessant. Einfach ist es aber sicher nicht. Und vor allem: Es braucht jetzt noch sehr viel Erfahrung – und vermutlich ein gesundes Maß an Vorsicht. Sogar Tim Berners-Lee, Erfinder des World Wide Web, warnte 2017 bei einer Konferenz, dass die Blockchain-Technologie zwar Fantastisches, aber vielleicht auch viele „kriminelle Wellen“ mit sich bringen wird.

Glossar

Smart ContractS fixieren vertragliche Regelungen als Codes, die einer konditionalen Logik folgen. Wenn bestimmte Voraussetzungen erfüllt werden, tritt automatisch eine bestimmte Vertragsklausel in Kraft. 

Beim Bitcoin-Mining wird Rechenleistung zur Transaktionsverarbeitung, Absicherung und Synchronisierung aller Nutzer im Netzwerk zur Verfügung gestellt. Dafür gibt es eine Belohnung in Form von Bitcoin-Anteilen, deren Höhe von der zur Verfügung gestellten Rechenkapazität abhängt.