Wachstum neu denken

Wachstum
13.11.2018

 
Die Epoche des starken Wirtschaftswachstums sei vorbei, stellt Prof. André Reichel in einem neuen Buch fest. Das sei aber kein Beinbruch. Vor allem KMU können von einem Next Growth profitieren.

Seit seiner Einführung in den 1930er- Jahren umstritten, gilt es dennoch als das Elixier der Wirtschaft und als Messlatte des Wohlstands: das BIPWachstum. Nur kontinuierliches Wachstum sichere den Wohlstand, lautet die gängige Formel. Dabei ist das Bruttoinlandsprodukt eigentlich ein schlechter Gradmesser. Denn die gesamte unbezahlte Arbeit wird ebenso wenig in die Berechnung miteinbezogen wie Umweltschäden. Rund um die ökologischen Grenzen von Ressourcenknappheit und Klimawandel haben sich deshalb neue Konzepte entwickelt, die in den Industrieländern ein nicht auf dem Wachstumsparadigma basierendes Wirtschaftssystem propagieren. Machen wir so weiter, zerstören wir unsere Zukunft, lautet ihre eindringliche Warnung.

Einer der führenden Wirtschaftswissenschaftler im deutschsprachigen Raum im Bereich der „Alternativen zum Wachstum“ ist Professor André Reichel, der an der International School of Management (ISM) in Stuttgart forscht und unterrichtet. „Wachstum neu denken“, lautet sein Plädoyer, dessen Argumente er unter dem Titel „Next Growth“ in einer Trendstudie mit dem Zukunftsinstitut vor wenigen Wochen veröffentlicht hat.

Auch er sieht ökologische Grenzen des Wachstums sowie ein ökonomisches Limit. „Die langfristigen Wachstumstrends sind längst nicht mehr so steil wie früher. Wir müssen uns mittelfristig auf Wachstumsraten zwischen ein und zwei Prozent einstellen“, sagt er im Gespräch mit „die wirtschaft“. Doch ist das für ihn kein Grund für Pessimismus. Vor allem KMU wären seiner Meinung nach prädestiniert dazu, Hauptakteure eines „neuen Wachstums“ zu werden, das nicht auf grenzenlosen Absatz baut und Umweltverschmutzung nicht in Kauf nimmt. Doch was sind die Treiber dieses Prozesses?

TREIBER DES WANDELS

„Unternehmen sind dazu da, Probleme zu lösen, nicht Probleme zu schaffen“, sagte der Managementphilosoph Peter Drucker. Durch diese Problemlösungspotenziale werden neue Wertschöpfungen erschlossen. So weit, so klar. Der springende Punkt ist laut Reichel, dass wir gerade einen starken gesellschaftlichen Wandel durchleben. Unternehmen, die diesen schnell verstehen und dementsprechend ihre Geschäftskonzepte anpassen, seien für die Zukunft bestens aufgestellt. Reichel macht drei Hauptfaktoren aus. 1.) „Moralisierte Märkte“ würden dazu führen, dass aufgrund des gestiegenen Wohlstands Kunden die sozialen Produktionsbedingungen und die ökologischen Folgen in ihr Konsumverhalten miteinbeziehen. 2.) Eine neue „Wir-Kultur“, die Menschen aktiv zusammenführt, entsteht. Dies ist etwa in den zahlreichen Angeboten der Sharing Economy oder beim Konzept des Prosumers zu sehen – wo der Konsument direkt an der Entwicklung von Produkten mitwirkt. 3.) Als letzter Treiber gilt der Klimawandel und die Notwendigkeit der Abschwächung desselben. Reichel: „Es ist klar: Klimaschädliches Verhalten muss zunehmend zu Sanktionen führen, und auch die Kosten für Umweltverbrauch werden steigen. Beschäftigen sich Unternehmen schon heute mit den unterschiedlichen Konzepten für das Monitoring und das Management ihres ökologischen Fußabdrucks, sind diese im Vorteil.“ Ein Beispiel sei die Einführung einer ökologischen Gewinn-Verlust-Rechnung. Der Sportartikelhersteller Puma sei hier etwa ein Vorreiter, sagt Reichel.

Was heißt das für Innovationsprozesse? Wenn man „Next Growth“ liest, wird klar, dass es dabei um eine Öffnung im Sinne von Open Innovation geht. Reichel hält auch einen Paradigmenwechsel für notwendig. Es geht um mehr als Technologie. „Die wirklich großen Innovationen sind soziale Innovationen“, sagt er. Ein Beispiel ist die gesamte Sharing-Economy: Der Erfolg von Airbnb, Uber und Co liegt im Erkennen der Bedürfnisse der Kunden und nicht so sehr in der technischen Umsetzung. Handelt es sich doch um relativ simple Datenbanken. Weitere Beispiele seien etwa Urban Gardening, wo Bio- und Wir-Kulturen im Lebensstil vereint werden.

„Die langfristigen Wachstumstrends sind längst nicht mehr so steil wie früher.“​

KRITIK AN „NEXT GROWTH“

Was Reichel in seinem umfassend recherchierten Buch darstellt, ist ein Update des gegenwärtig auf unterschiedlichen Ebenen laufenden Wachstumsdiskurses. Er zeigt sich dabei als Kritiker eines „grünen Wachstums“. Denn jede Verbesserung der Umwelteffizienz bringe letztlich ein Mehr an Konsum. Ein Beispiel: Die effizienteren Motoren führen dazu, dass man die Autos hochmotorisiert und einfach größere Modelle herstellt. Das führt zu einem Dilemma. Ebenso stellt sich die Frage, wie eine Abkehr vom allgemeinen Wachstumsdogma überhaupt möglich ist? Schließlich wollen Angestellte und Zulieferer jedes Jahr mehr Geld sehen. Reichel argumentiert, dass monetäre Zuwendungen an Bedeutung verlieren. Umfragen zeigen auch klar, dass das Arbeitsumfeld und die Freizeit den Menschen wichtiger werden – doch ist der als zentrale These angeführte soziale Wandel in seiner Ausprägung tatsächlich so stark? Konsumverweigerer sind eine Randgruppe, dagegen boomen Städtetrips mit dem Billigflieger, und der SUV ist mittlerweile Spitzenreiter bei den Pkw-Neuzulassungen. Reichel glaubt, dass die Entwicklung von einer kleinen Elite ausgehen muss, um dann in die Breite vorzudringen. Das mag sein. Doch kann man auf den Wandel, der Next Growth einleiten soll, vertrauen? Letztlich muss die Politik den Rahmen vorgeben und beispielsweise umweltfreundliches Verhalten steuerlich stärker belohnen. Dann hätten jene KMU, die auf Next Growth setzen, einen Startvorteil.