Generation Alpha: Tickende Zeitbomben?

Mitarbeiter*innen
16.02.2023

 
Schon die Generation Z hat viele Unternehmen enorm gefordert. Nun streckt langsam die nächste Generation ihre Zehen in Richtung Arbeitsmarkt aus. Wie die „Alphas“ ticken und welche Erwartungen sie an ihre Arbeitgeber stellen.
yo

Aufgeregt kam der Lehrling zu seinem Ausbilder. Mit seinen Kollegen hatte er eine Gruppe junger Schülerinnen durch das Werk geführt, dann das: „Eine wollte ihre Hand in die laufende Maschine stecken!“ Im letzten Moment hinderte er sie daran. „Ist doch nicht real“, lachte sie. Das Mädchen hatte die – gefährliche – Maschine für eine Computersimulation gehalten.
Daniel Bacher, HR-Manager bei Schoeller-Bleckmann Edelstahlrohr, ist ein ebenso begeisterter wie hartgesottener Lehrlingsausbilder. Mehrere Generationen führte er schon durch die hormongebeutelten Pubertätsjahre. Auch von seinen derzeit 25 Lehrlingen ist er einiges gewohnt. Doch die neuen Jahrgänge, die er gerade rekrutiert, machen ihm Sorgen. „So weit weg von der Realität“ seien sie, „dass sogar meine Jungs geschockt waren.“ Für die jetzt 13-, 14-Jährigen verschwimmen die Grenzen zwischen digitaler und realer Welt so stark, dass Bacher seine Ausbildung auf neue Beine stellen wird.
Heuer strecken erstmals die „Alphas“, die ab 2010 Geborenen, ihre Zehen in Richtung Arbeitswelt aus. Zuerst als künftige Lehrlinge, ein paar Jahre später als Maturanten, noch später als Uni-Absolventen. Ging man früher davon aus, dass sich alle 15 Jahre eine neue Generation mit eigenen Charakteristiken, Werten, Motivationen und Sozialverhalten herausbildet, dreht sich das Rad jetzt schneller. Die Alphas sollen ganz anders sein als ihre sattsam besprochene Vorgängergeneration Z (geboren von 1997 bis 2009). Bacher: „Das sind Zeitbomben.“

Multiple Krisen, multiple Persönlichkeiten
Als „verloren, halt- und sinnsuchend“ beschreibt er sie. Seit ihrer Geburt taumelt die Welt von einer Krise in die nächste: Finanz- und Wirtschaftskrise, Klimawandel, soziale Erosion, Verarmung des Mittelstandes, Corona – und über allem schwebt als heilsversprechender Ausweg die Digitalisierung. Es heißt, die Alphatierchen wurden schon mit dem Smartphone in der Hand geboren. Digitales macht ihnen keine Angst, doch sie mussten erleben, wie ihre Eltern, typischerweise sehr späte Vertreter der Generation X (geboren 1965 bis 1979) oder frühe der Generation Y (1980 bis 1996), gebeutelt wurden von Digitalisierung, Automatisierung und Agilisierung. So viel Veränderung, so wenig Stabilität.
So viele Überlebensängste der oft alleinerziehenden Mütter, die ihre Kinder hautnah mitbekamen. So viel Überforderung. Meist parkte man die kleinen Alphas „vor einem rechteckigen Kastl“ – wahlweise Handy, Tablet, Laptop oder zunehmend seltener Fernseher. Ihr Mikrokosmos heißt – nein, nicht Instagram und schon gar nicht Facebook, sondern TikTok: Die App sagt einem, wie man aussehen, wie man sich darstellen, wie man posieren muss. Inszenierung ist alles. Bacher kennt „16-jährige Mädchen, die nach Polen fahren, um sich die Lippen aufspritzen zu lassen“. Er selbst zieht sich abends manchmal TikTok-Videos hinein, um die Welt seiner Lehrlinge zu verstehen. Deren Persönlichkeit, sagt er, ändere sich entsprechend ihrem momentanen Medienkonsum: heute furchtloser Skater durchs Weltall, morgen schillernder Prinz oder Prinzessin. „Multiple Persönlichkeiten“, die sich selbst als „viele“ empfänden: „Wie soll ich diesen ‚vielen‘ beibringen, dass sie ihr Herzblut in die Firma bringen?“

Eltern und Schule lassen aus
Noch etwas fällt dem Personalchef auf: Die Kinder sind zunehmend sich selbst überlassen. Die Eltern kommen nicht einmal zum Tag der offenen Tür mit, der vor Corona noch ein Elternmagnet war. Der Shuttlebus aus Ternitz spuckt nur mehr desinteressierte 13-Jährige vor den Werkstoren aus, die keine Ahnung haben, worum es hier eigentlich geht. Leistung bringen? Wieso, arbeiten heißt doch hingehen und Geld kassieren. Weder Eltern noch Schule hätten sie auf „das Dazwischen“ vorbereitet. Bacher nennt es soziale Verwahrlosung und betont, dass seine Region weder sozialer Brennpunkt noch nennenswert problemgebeutelt sei.
Zum schulischen Vorwissen fällt ihm wieder eine Story ein. Seit Jahren lässt er beim Einstiegstest auf einer Österreichkarte die Bundesländer und wichtige Städte einzeichnen. So schlimm wie heuer war es noch nie: „Über dem Burgenland stand Afrika, über Niederösterreich Russland. Einem fiel zu Villach nur Fasching ein.“
Nein, jetzt kommt kein School-Bashing. Sondern ein Szenenwechsel in eine kleine, überschaubare Neue Mittelschule in einem der Bundesländer. Aus gutem Grund will die Direktorin nicht genannt werden. In eine ihrer 3. Klassen, erzählt sie, gingen die Lehrer nur mehr zu zweit. „Die Kinder sind distanzlos. Liebenswert, natürlich. Aber sie merken nicht, wenn sie Grenzen überschreiten.“ Bei den Jahrgängen davor hätte ein „Stopp!“ genügt, bei diesem nicht mehr. Hausübungen? Vergiss es, die werden wegdiskutiert. Vier Wochen nach Semesterstart hatten die Schüler ihre Sachen noch immer nicht beisammen, das gab es noch nie. „Hab’ ich halt keine Patschen“, kommentierte einer, „zu Hause hab’ ich auch keine.“

Sehnsucht nach einfachen Botschaften
„Mit 13 Jahren ist der Erziehungszug abgefahren“, bedauert die Direktorin. „Wenn ich sage, gebt den Kindern Regeln und Rituale, spielen die Eltern nicht mehr mit. Die sind selbst überfordert.“ Zwei Jahre Home-Schooling haben Lücken in den Social Skills hinterlassen. Konflikte tragen die Kids aggressiv aus – weil sie das online so sehen und weil sie „kein Gefühl für die Gemeinschaft“ haben. Und weil sie „aus dem letzten Loch pfeifen. Früher haben wir uns gefragt, wozu die Herbstferien gut sein sollen. Heute sind wir froh darüber.“ Unisono fällt dem Personalchef Bacher und der NMS-Direktorin noch ein Merkmal der kleinen Alphas auf: Sie sind für stark vereinfachte Botschaften anfällig. Und damit auch für „Führer“, die sie da abholen, wo sie stehen, die ihnen simple Wege aufzeichnen. Politisch macht sie das zur Zeitbombe, die nur auf passende Rattenfänger wartet. Diesen Gedanken wollen wir hier nicht weiterspinnen. Für Lehrer und Ausbilder heißt es: kurze vereinfachte Botschaften und Videos statt Texte. Die Lesefähigkeit lässt dramatisch nach.

Das andere Ende der Skala
Machen wir noch einen Szenenwechsel. Bisher zeichneten wir ein – zugegeben zugespitztes – Bild von einem Ende der Skala, von jenen Jugendlichen, die demnächst auf Lehrstellensuche gehen. Am anderen Ende stehen die Kinder „von meist schon etwas älteren Helikoptereltern, die wahlweise im SUV oder im schicken holländischen Fahrradanhänger zur Schule gebracht werden“. So beschreibt es Peter Brugger, Direktor des BRG Schopenhauerstraße. Das liegt auf der noblen Seite Wiens, in Währing. Hier werden die Schülerinnen und Schüler mit hoher Wahrscheinlichkeit maturieren und danach studieren. Falls es überhaupt Themen mit Kindern aus anderen Nationalitäten gibt, werden die mit behütenden Eltern in gehobenem Englisch ausdiskutiert. Trotz dieser Unterschiede macht Brugger mit seinen kleinen Alphas dieselben Beobachtungen, wenn auch aus anderer Perspektive.
Seine erste Anmerkung betrifft eine deutliche Polarisierung. Der Einfachheit halber nennen wir die beiden Gruppen hier „Demokraten“ und „Republikaner“. Die einen zeichnen sich durch überbordende Hilfsbereitschaft gegenüber Mi­granten aus, die anderen lehnen diese kategorisch ab. Die einen heißen das kleine Mädchen mit den zwei Vätern herzlich willkommen, die anderen mobben es. Die einen wurden von ihren Eltern präzise über ihre Rechte – auch gegenüber Lehrern – aufgeklärt und debattieren eloquent („Ein Nein wird immer hinterfragt“). Die anderen vertrauen auf das Recht des Stärkeren („Konflikte verbal zu lösen fällt ihnen schwer“). Diese Polarisierung war immer schon da, sagt Brugger, doch das pandemiebedingt enge Zusammenleben mit den Eltern hat beide Fraktionen gestärkt.
Bruggers zweite Beobachtung birgt einen Schlüssel für den Umgang mit den kleinen Alphas: Das Zauberwort heißt Individualisierung. Brugger bezieht es auf die Schule, doch sehen wir es als Anregung für die ersten Alpha-Lehrlinge: Nicht alle über einen Kamm scheren, sondern für jede und jeden ein Ausbildungs- und Arbeitsprogramm schnitzen, das den Neigungen und Talenten entspricht. Eine gute Nachricht hat Brugger noch: Bei den MINT-Fähigkeiten sollen die kleinen Alphas richtig gut sein.

Was online steht,
wird nicht hinterfragt.

Robert Frasch, Lehrlingsexperte

Robert Frasch,  Lehrlingsexperte
Robert Frasch, Lehrlingsexperte

Sieben Tipps für KMU
Kommen wir zu den Implika­tionen für Unternehmen, die sich auf die Alphas vorbereiten wollen. Für sie hat Lehrlingsexperte Robert Frasch einige Empfehlungen.
Erstens: „Das Thema Geld ist wichtig.“ Soll heißen: Den Kids ist bewusst, dass ihre Großeltern vielleicht noch etwas zu vererben haben, ihre Eltern schon nicht mehr. Um ihr Stück vom Kuchen zu ergattern, sind sie empfänglich für alles Materielle. Weitergedacht: vielleicht auch für Korruption und unsaubere Erwerbsquellen. Den Zusammenhang zwischen Leistung und Einkommen sehen sie nicht so klar.
Zweitens: „Ein heillos übersteigertes Selbstwertgefühl.“ Frasch erzählt von einem Lehrstellenwerber, der beim Test nur zehn von 100 Punkten machte. Auf die Frage des Personalchefs, was denn schiefgegangen sei, antwortete er: „Wieso? Zehn Punkte sind doch toll!“
Drittens: „Gamification ist wichtig. Sie kennen ja nichts anderes.“ In der rosaroten Onlinewelt sind sie zu Hause. Auf spielerische Zugänge wie gamifizierte Tests und Schulungen reagieren sie gut.
Viertens: „Was online steht, wird nicht hinterfragt.“ Es wird vielleicht emotional kommentiert, aber für bare Münze genommen.
Fünftens und apropos Bewerbungen: Die meisten Firmenwebsites sind für die junge Zielgruppe ungeeignet. Weder sind sie für Smartphones angepasst, mit denen die Kids „symbiotisch zusammengewachsen sind“, noch suchen Alphas dort nach Jobs. Ihre Suchmaschine ist – nein, nicht Google, sondern YouTube. Dort muss ein direkter Zugang zur Bewerbungsseite gelegt sein. TikTok, Instagram und SnapChat hält Frasch für probate Image-, nicht aber für Recruitingmedien. Als populärste Lehrstellenseiten gelten Lehrberuf.info, Lehrstellenportal.at und Lehrling.at. Frasch attestiert vielen KMU „ein gutes Marketing, aber hintennach kommt nichts“. Nicht die Marketingkampagne zähle, sondern der Prozess dahinter. Für glaubwürdige Kampagnen rät Frasch, die Ausbilder beizuziehen.
Sechstens: Jugendliche mit migrantischem Hintergrund werden in Kampagnen praktisch immer vergessen. „Die Demografie ist, wie sie ist. Wir sollten diese Zielgruppe nicht ignorieren!“
Siebentens: Von ihren Bewerbungen erwarten sich die Alphas (und auch die Gen Z) dasselbe, was sie von Amazon gewohnt sind: sofortige Rückmeldung und permanente Statusinfo. Nach dem Wochenende eine Bestätigungsmail zu bekommen ist viel zu spät – wer kann sich da noch an die Bewerbung erinnern? Und überhaupt: eine Mail? Mails sind den Kids fremd, sie kennen nur WhatsApp, Signal und Telegram. Frasch: „Konzerne haben das teilweise schon verinnerlicht. KMU noch lange nicht.“ Was gefährlich sein kann, denn auch kritische Kommentare über Unternehmen verbreiten sich blitzschnell.

Fazit
Gerade weil die Generation Alpha völlig neue Anforderungen an Unternehmen stellt, sollten sich diese frühzeitig mit ihren zukünftigen Angestellten auseinandersetzen. ­Verwöhnt oder verloren? Beides trifft auf die kleinen Alphas zu. Entsprechend groß wird die Herausforderung, sie auf einen guten Weg zu führen. Doch es lohnt sich. In unser aller Interesse. ­

Man kann nicht jeden integrieren

Bernhard Heinzl­maier rät Ausbildern, im Umgang mit Vertretern der Generation Alpha klare Verhältnisse zu schaffen.

Herr Professor Heinzlmaier, welche Unterschiede fallen Ihnen bei den Alphas im Vergleich zur Vorgängergeneration Z auf? Mir fällt die eminente Spaltung zwischen bildungsnahen und bildungsfernen Schichten auf. Und steigende Unzufriedenheit. Die 10- bis 15-Jährigen sind deutlich unzufriedener als die 16- bis 30-Jährigen. Sie waren noch stärker von den Coronamaßnehmen betroffen, haben noch mehr unter Isolation und Kontaktmangel gelitten. Das hat zu einer Entwicklungsverzögerung geführt.

Wenn die ersten Alphas jetzt in den Arbeitsmarkt eintreten: Was heißt das für Arbeitgeber? Die Alphas sind kindlicher als frühere Jahrgänge. Sie müssen nicht nur den Bildungsverlust aufholen, auch ihre Kindheitsideale ablegen – etwa an Fantasiefiguren zu glauben – und sich Erwachsenenideale aneignen. Wer die Wahl hat, sollte besser Schulabbrecher aufnehmen, die sind schon ein paar Jahre älter. Idealerweise aus Mittelstandsfamilien: Die wissen schon, wie man grüßt oder das Telefon abhebt.

Für Sie sind Kinder aus bildungsfernen Schichten die großen Verlierer … Stimmt, bildungsferne Eltern glauben nicht mehr an den Aufstieg ihrer Kinder. Sie sind demoralisiert, vertrauen weder Staat noch Gesellschaft. Daher unterstützen sie ihre Kinder nicht wie früher, weil es „eh nichts nützt“. In diesen Kindern gärt es, sie haben ohnehin eine geringere Selbstkontrolle. Das kann schnell umschlagen. Dann kommt es zu Aggression, Vandalismus und Destruktion. In ihrer Suche nach Stabilität und Bindung sind diese Kinder auch leicht anfällig für Manipulationen. Da wird man aufpassen müssen.

Als Ausbilder: Wie führe ich sie in die richtige Richtung? Indem ich sie nicht nur als Arbeitskraft sehe, sondern als ganze Menschen. Lehrer und Ausbilder sind Vater- und Mutterersatz. Die Alphas suchen Sicherheit, sie wollen angenommen werden, auch über persönliche Probleme reden können. Ausbilder müssen die Augen offen halten: Wenn ein Lehrling stark zu- oder abnimmt, dauermüde ist, Alkoholspuren zeigt … dann sofort ansprechen und Hilfe anbieten.

Soll man mit den Alphas extra nachsichtig sein oder extra konsequent? Man muss klare Verhältnisse schaffen. Und sich im Klaren sein: Man kann nicht jeden integrieren. Rede mit den Eltern, rede mit der Berufsschule, aber wenn das nichts nützt, warte nicht zu lang mit der ersten Verwarnung. Die meisten Jugendlichen verstehen dann, dass nicht alles durchgeht. Eskaliert es trotzdem weiter, muss man sich eingestehen, dass man nicht jeden Jugendlichen retten kann.

Viele Ausbilder beklagen, dass sie nicht gegen das omnipräsente Handy ankommen. Die Jugendlichen sind mit ihren Freunden dauervernetzt, das kann man nur schwer unterbrechen. Das große Problem der Alphas heißt TikTok und beginnt mit elf, zwölf Jahren. Die Generation Z kannte das in diesem Alter noch nicht. TikTok-Videos dauern nur wenige Sekunden, dann kommt das nächste. Damit sinken Aufmerksamkeitsspanne und Konzentration dramatisch. Außerdem wird TikTok nicht nur passiv konsumiert, man muss auch ständig selbst etwas hineinstellen. Dafür inszeniert man sich rund um die Uhr. Den Alphas geht es stark um ihr Aussehen, sie bewegen sich auch am Arbeitsplatz wie auf einer Bühne und erwarten Applaus.

Also weg mit dem Handy? Ein Ausbilder ist immer langweiliger als TikTok. TikTok und damit das Handy gehören in der Arbeitszeit weg. Manchen kann man sagen, wenn du schnell arbeitest, bekommst du es in der Pause zurück.

Was fällt Ihnen noch bei den Alphas auf? Sie sind die erste Generation, der schon in diesem Alter bewusst ist, dass man auch psychisch erkranken kann. Sie sagen „ich fühle mich depressiv“, „ich bin ausgebrannt“. Dieses Bewusstsein hatten Jugendliche vor zehn Jahren noch nicht. Es mag Taktik sein, doch Ausbilder sollten darauf vorbereitet sein, dass sie das einsetzen.

____________________________

Zur Person: Der Sozialwissenschaftler Bernhard Heinzlmaier analysiert den Einfluss junger Generationen auf die Gesellschaft. Er ist Mitbegründer und ehrenamtlicher Vorsitzender des Instituts für Jugendforschung und leitet das Hamburger Marktforschungsunternehmen T-Factory.