Die große Lüge

Personal
26.02.2019

 
Wenn Manager auf Konzepte wie Selbstführung und Empowerment setzen, lautet der Subtext oft: „Macht ihr den Mist und lasst mich damit in Frieden!“ Die Führung liegt in vielen Firmen im Argen. Wie das kam und wo man ansetzen könnte.

Es gibt schon wieder etwas Neues. Job-Crafting heißt es und bedeutet, dass sich jeder seinen Job selbst schnitzen darf. Die Logik: Wer tut, was er gern tut, hat mehr Spaß daran und arbeitet vor allem mehr. Und genau darum geht es in Wahrheit. 
Die Schwachstellen der Idee werden charmant wegargumentiert. Was passiert mit Tätigkeiten, die niemand gern tut? Solange sie „zumutbar“ sind, so die Antwort, teilt sie die Führungskraft unter den Teammitgliedern auf. Gerecht natürlich. Was also ist das Neue an Job-Crafting? Seien wir ehrlich: Ein bisschen Rosinenpicken und ansonsten die Pflicht abarbeiten – das ist nicht neu. Deswegen arbeiten wir nicht (noch) mehr. 
Was hat uns die New World of Work nicht alles versprochen? Den Wunsch, die Menschheit von der Knechtschaft der Lohnarbeit zu befreien, formulierte der Ökonom Frithjof H. Bergmann schon 1949. Gebt nicht nur Denk-, sondern auch Handlungsfreiheit, forderte er. Wenn der Chef aufhört anzuschaffen, können die Mitarbeiter endlich zeigen, was in ihnen steckt. 
Bergmanns Konzept des Empowerments ließ sich wunderbar in der Finanz- und Wirtschaftskrise instrumentalisieren. Die schlug vor zehn Jahren bei uns voll ein und forderte zigtausend schuldlos gestrichene Arbeitsplätze. Aber irgendjemand musste die liegengebliebene Arbeit ja errichten. Also übersetzten die überlasteten Führungskräfte, die ihrerseits mit ständig neuen Aufgaben zugeschüttet wurden, Empowerment für ihre Teams in: „Ich ermächtige euch, Probleme allein zu lösen.“ In Wahrheit hieß das: „Macht ihr den Mist und lasst mich damit in Frieden!“

Blick zurück in Zynismus

Heute sehen wir klarer, was damals passiert ist. Jeder hatte Angst. Jeder fürchtete um seinen Job, um seine Existenz. Jeder vermisste die alten Kollegen, die nach dem Zufallsprinzip, oder nach Alter und Gehaltshöhe, aus den Reihen geschossen worden waren. Jeder musste unvorbereitet deren Aufgaben auffangen. Und war seinerseits froh, diese unter dem Titel Empowerment nach unten delegieren zu können.
Dann sprang die Konjunktur wieder an. Wunderbar, applaudierten einander die Vorstände, jetzt brauchen wir Innovationen. Sie sprengten ihre Sanierungsmanager ab und ernannten einen kreativen Kopf im Haus zum Innovationsmanager. Beim Anblick der leeren Hallen mit den ausgedünnten Belegschaften stach ihnen ein letztes Einsparungspotenzial ins Auge: die Fläche. Viele Mitarbeiter waren ins Home-Office geflüchtet, um der tristen Stimmung zu entgehen und um endlich einmal konzentriert arbeiten zu können. Sollen sie dort bleiben, entschieden die Vorstände, dann sparen wir uns ihren Schreibtisch. Wir ziehen in ein kleineres Gebäude um, geben den Leuten nur mehr flexible Tische für den Bedarfsfall und minimieren unsere Raumkosten.
Ein Problem gab es allerdings: Sie hatten in ihren Firmenwerten „Bei uns ist der Mensch im Mittelpunkt“ stehen oder eine andere humanistische Phrase. Sie mussten ihren Mitarbeitern also beweisen, wie wichtig sie ihnen waren. Damit die, die alle Belastungen überstanden hatten, nicht ausgerechnet zum Konjunkturaufschwung absprangen. Denn erstmals spürten die Vorstände den Fachkräftemangel und die demografische Krise wirklich.
Die Lösung war ganz einfach. Sie renovierten ein bisschen und stellten Wuzlertische in den Gängen auf, zur Rekreation in der Pause. Diese erlebten ein wundersames Revival, fast jedes Unternehmen hat heute einen. Ebenso wie Rutschen durch die Stockwerke und selbstbewässernde Pflanzenwände. Und lauschige Gesprächskojen für konstruktive Meetings. 
Was tatsächlich passierte: Die Wuzlertische verwaisten, weil sich niemand beim Wuzeln erwischen lassen wollte. Dann hätte er sich nämlich die Frage gefallen lassen müssen, ob er nichts zu tun habe. Ebenso verwaisten die Gesprächskojen, weil Sitzungen durch zeitsparende Stehungen ersetzt wurden. Wer steht, redet kürzer.
Empowert wird immer noch. Er habe vor fünf Jahren als Verkäufer im Unternehmen begonnen, erzählt ein junger Business-Unit-Manager. Dann bekam er die Key-Accounts dazu, dann die Verkaufsleitung, das Backoffice, das Marketing, das Controlling und schließlich die gesamte Leitung für seinen Bereich. Parallel wurden alle Kollegen eingespart, er sei jetzt eine One-Man-Show. So jung der Mann ist, so tief sind seine Augenringe.

Die Verweigerer

Dabei gehört er der Generation Y an, den 20- bis 40-Jährigen, die angeblich das böse Spiel nicht mitspielen wollen. Sie wollen nicht ausbrennen wie ihre Eltern, sagen sie. In HR-Kreisen kursieren wilde Geschichten über die Gen Y. In ihrer Anwaltskanzlei brenne spätabends nur mehr in den Partnerbüros Licht, erzählt die HR-Chefin. Die Partner höchstselbst müssen Konzipientenarbeit tun, weil ihre Konzipienten um sieben Uhr abends einfach heimgingen. Welche Ironie. 
Oder in der IT-Szene: Nach langem Suchen fand ein Mittelständler einen dringend benötigten Entwickler. Um ihn sicher zu binden, machte er ihm ein astronomisches Gehaltsangebot. Toll, antwortete der Entwickler, bei so viel Geld müsse er nur mehr halbtags arbeiten und könne dennoch bequem leben. Der Mittelständler sucht jetzt weiter. 
Auch Start-ups behaupten, das Rattenrennen zu verweigern. In Wahrheit treiben sie das Prinzip Empowerment auf die Spitze, weil sie in eigenen Unternehmen zu absolut allem ermächtigt sind – oder besser gesagt verpflichtet. Wer gründet, ist automatisch für alles verantwortlich. Wer dabei aber noch jung und unerfahren ist, zahlt Lehrgeld und reibt sich auf. So wie jener ausgebrannte junge CTO, der seinen ebenso jungen CEO – Titel sind wichtig, sie müssen nur nicht mehr akademisch sein – nach fünf durchgearbeiteten Jahren vor die Wahl stellte, ihm entweder sechs Monate Auszeit zu gewähren oder ihn zu verlieren. Er gewann. Jetzt trampt er durch Thailand.

Angst essen Seele auf

Eine Zutat zur schönen neuen Arbeitswelt darf nicht fehlen: die Digitalisierung. Neue Technologien sind nichts Ungewöhnliches. Das weiß jeder, der sich mit Internet, E-Mails und Social Media angefreundet hat. Doch die kamen sequenziell, immer eines nach dem anderen. Dazwischen lagen jeweils einige Jahre, in denen man sich an das Neue gewöhnen konnte.
Mit der Digitalisierung ist das anders. Jetzt kommt alles gleichzeitig: Internet der Dinge, Künstliche Intelligenz, Roboter, Big Data, virtuelle Realitäten und Algorithmen, die alles und jeden kontrollieren. Die Liste kann beliebig fortgesetzt werden. Manche Zukunftsforscher unken, dass die Digitalisierung einen Beruf nach dem anderen auffressen wird. Am Ende werde nur mehr jeder Zehnte Arbeit haben. Nur ein bedingungsloses Grundeinkommen werde die Massen vor dem Verhungern retten. Da wundern wir uns, dass die Menschen Angst haben?

Auftritt: Die Retter

Von einer schönen neuen Arbeitswelt sind wir also doch ziemlich weit entfernt. Dass die Idee nicht ganz aufgeht, merken auch die Unternehmen. Was tun sie, wenn sie ein Problem sehen? Sie engagieren Berater. Es ist einfacher, ein Sonderbudget für Consulting lockerzumachen als für eine dickere Personaldecke. Das ist zumindest eigenartig, wenn doch der Mensch im Mittelpunkt steht und es der Wirtschaft doch gerade so gutgeht. Denn was sollen Berater in Firmen ausrichten, in denen jeder Job, jedes Projekt von vornherein für 60-Stunden-Arbeitswochen ausgelegt ist?
Immerhin, sie geben ein paar Anhaltspunkte. Das Thema Überlastung sei Fixpunkt in jedem Termin, nickt Othmar Hill, Urgestein der Personalberaterbranche. Wundersamerweise suchten die Führungskräfte aber die Schuld dafür bei sich und wären begierig zu lernen, wie sie sich noch besser organisieren. 
Es würde nur nichts ändern, meint Hill. „Weil die Distanz fehlt, zum eigenen Anspruch, zum Anspruch des Vorgesetzten, zu alten Glaubenssätzen.“ Erst müssten die inneren Antreiber in Richtung Stärke und Perfektionismus zum Verstummen gebracht werden. Erst dann könnten Organisa-
tionstechniken greifen. Seine eigenen Antreiber hat er sich längst ausgetrieben: „Wenn mich einer stressen will, sage ich, dafür bin ich zu alt. Und schon gibt er Ruhe.“ Soll er ein System transformieren – digital machen, agil oder sonstwie zukunftsfit –, identifiziert Hill bestimmte Mitarbeiter, mit denen er dann arbeitet. „Nicht die oberste Schicht, die ist mit sich selbst beschäftigt. Nicht die Manager, die sind überlastet. Nicht die Techniker, die sind auf ihr Fach konzentriert. Sondern Katalysatoren aus der zweiten Reihe, sofern sie nicht empathiebefreit sind.“

Die Kunst, loszulassen

Auch Leadership-Coach Andreas Philippitsch, der sich nach Jahren in einer großen Beratung eben selbstständig gemacht hat, beobachtet „eine Unfähigkeit, aus- und loslassen zu können“. Ob der Geschäftsführer vor der Pensionierung, der sich lieber unentbehrlich macht als seinen Nachfolger einzuschulen, oder der neue Vertriebsdirektor, der sich an die vertrauten Folien seines letzten Arbeitgebers klammert: „Wer Altes nicht loslässt, hat keinen Platz für Neues. Die Leute schleppen so viel Mist mit sich herum.“

Schattengefechte

Die latente Angst treibe sie zu unnötigen Scheinaktivitäten: „Da bewirbt sich einer intern mit viel Aufwand, obwohl er weiß, dass er keine Chance hat. Er denkt, wenn er es nicht tut, wird er abgeschrieben.“ Solche sinnlosen Zeitfresser und ihre tieferen Hintergründe gelte es zu identifizieren und künftig auszulassen – und schon würden neue Ressourcen frei. Bei vielen Führungskräften ortet Philippitsch auch Mängel bei der Feedback- und Kritikfähigkeit: „In Mitarbeitergesprächen wird Kritik in Watte gepackt. Der Chef sagt ‚Sie sind so kommunikativ‘, meint aber ‚Sie kommen nicht auf den Punkt‘. Was soll der Mitarbeiter daraus lernen?“ Entwickeln könne er sich nur bei klaren Worten: „Am Anfang schlucken sie, aber dann geht etwas weiter.“ 
Alles gute Ideen, die die Führungskräfte noch ein Stück effektiver und effizienter machen. Ob das aber etwas am grundlegenden Problem ändert? 
Die Unternehmen versuchen es jetzt mit einem neuen Dreh: Sie rekrutieren einen anderen Typ Führungskraft. Nicht mehr den demokratischen Mitarbeiterversteher, sondern den „Macho mit Ansage“. Den Zug zu starken Männern kennen wir schon aus der Politik, dort dürfen sie gern auch psychopathische Züge haben. Doch scheinbar hat man aus der Geschichte nichts gelernt: Solche Anführer wollen der Welt nicht unbedingt Gutes. Und so besetzt HR offene Stellen derzeit lieber mit starken Männern als mit empathischen Frauen, was natürlich niemand zugibt. Also: am besten breite Schultern wachsen lassen.