Alle Potenziale nutzen

Fachkräftemangel
15.02.2022

 
Es ist paradox. Der Wirtschaft fehlen Fachkräfte, doch viele Betriebe ignorieren das Potenzial von Menschen mit Behinderungen (MmB), die zwar in einem Lebensbereich eingeschränkt sind, das jedoch gut kompensieren können – wenn man sie nur lässt.
Inklusive Unternehmen
Inklusive Unternehmen erfreuen sich größerer Identifikation und erreichten neue Zielgruppen.

Text: Andrea Lehky

Jede Schwäche kann auch als Stärke gesehen werden: Gehörlose sind stressresistent und ein Ruhepol selbst im lautesten Maschinenraum. Blinde gewinnen dank Brailleschrift jeden Schnelllese-Wettbewerb. Menschen mit Asperger-Syndrom schlagen beim Aufspüren von Programmierbugs jeden Computer. Und ermüden selbst bei den anstrengendsten Routineaufgaben nicht.
Michael Pichler, Leiter von Zero Project Austria, kennt viele solcher Beispiele. Zero Project Austria entstand auf Initiative der Essl Foundation und widmet sich der beruflichen Integration von MmB. „Wir wissen doch, dass Menschen den Erfolg eines Unternehmens ausmachen“, sagt Pichler auf einer BDO-Veranstaltung, „egal ob mit oder ohne Behinderung. Doch inklusive Unternehmen erfreuen sich größerer Identifikation und erreichten neue Zielgruppen.“
Karin Simonitsch, Chefin der Marien Apotheke in der Wiener Schmalzhofgasse, kann das nur bestätigen. Seit sie einen gehörlosen Apotheker beschäftigt, kommen Bestellungen aus seiner Community aus ganz Österreich.

Ein paar Nummern größer bekräftigt das auch Martin Essl, Namensgeber und Stifter der Essl Foundation: „Ich habe das 35 Jahre lang bei BauMax gesehen: Zuerst kommt ein Mensch mit einer Behinderung ins Team. Am Anfang dauern die Entscheidungsprozesse länger, dann lernen alle dazu und sind stolz auf ihn. Und dann holen sie einen zweiten MmB dazu.“  Kraft und Qualität eines inklusiven Teams würden immer gewinnen, ist Essl überzeugt. Und was im Baustoffhandel funktioniere, funktioniere in jeder Branche.

Vorurteile überall

Doch warum zahlen viele Arbeitgeber lieber Ausgleichstaxe als MmB zu beschäftigen? Die Antwort ist einfach: Weil sie falsch informiert sind. Deshalb räumen wir an dieser Stelle mit einigen Irrglauben auf.

Irrglaube 1: MmB haben besondere Rechte

Nein. Aus dem Behindertengesetz lassen sich weder mehr Erholungs- noch mehr Urlaubsansprüche ableiten. Die könnten sich nur aus Branchen-Kollektivvertrag oder firmeninterner Betriebsvereinbarung ergeben.

Irrglaube 2: Kunden haben Berührungsängste

Der Rewe Konzernpersonalchef Johannes Zimmerl sagt: „Stimmt nicht. Unsere Erfahrungen zeigen, dass Kunden die Beschäftigung von MmB als sehr positiv empfinden und höhere Sympathiewerte für das Unternehmen entwickeln.“

Irrglaube 3: Kollegen haben Berührungsängste

Auch falsch. Voraussetzung ist allerdings, dass die Führungskraft die neuen Kollegen gut einführt. Dann wird die Zusammenarbeit rasch als sozial bereichernd empfunden.

Irrglaube 4: MmB kommen teuer

Kommt darauf an. Je nach Behinderung kann ein vollausgestatteter Arbeitsplatz auch mal satt vierstellig kosten. Dem stehen allerdings zahlreiche Förderungen und Zuschüsse  gegenüber. Außerdem fällt die Ausgleichstaxe weg.

Irrglaube 5: MmB wird man nicht wieder los

Der Mythos des schier unüberwindlichen Kündigungsschutzes stimmt schlichtweg nicht. Seit 2011 gelten für die ersten vier Jahre eines Dienstverhältnisses für MmB dieselben Kündigungsregeln wie für alle anderen. Erst danach greift ein besonderer Kündigungsschutz – bis dahin kennt ein Unternehmer den Wert seiner Leute. Der Vollständigkeit halber: Eine begründete Entlassung kann immer ausgesprochen werden.
Auch, um mit solchen Vorurteilen aufzuräumen, wurde 2020 im Sozialministerium das Netzwerk Berufliche Assistenz (NEBA) geschaffen – auf Anregung der Wirtschaft übrigens. Ziel ist, das Stellenangebot der Betriebe besser mit dem Arbeitskräftepotenzial der MmB abzustimmen. Neben dem Service für Betriebe bietet NEBA auch Jobcoaching, Berufsausbildungs- und Arbeitsassistenz und ein eigenes Coaching für Jugendliche und eines für Verhalten am Arbeitsplatz.

Wie geht man es an?

Wie jede neue Strategie beginnt auch diese mit einer Vision. Ein schönes Beispiel kommt von Nicole Steger, Diversity Inclusion Equality Leader bei Ikea Austria. „Unsere Vision lautet, zu inspirieren und mehr als eine Milliarde Menschen weltweit zu einem gesünderen, nachhaltigeren Leben zu Hause zu bewegen. Dafür müssen wir auch MmB ansprechen.“ Konkretes Ziel unter dieser Vision ist, in zwei Jahren keine Ausgleichstaxe mehr zu zahlen, sprich, pro 25 Arbeitnehmer einen MmB zu beschäftigen. Jetzt kommt eine Rechenübung: Wenn 15 Prozent der österreichischen Bevölkerung eine Behinderung haben, wie groß ist dann die Wahrscheinlichkeit, dass im Unternehmen bereits MmB beschäftigt sind, sie das aber geheim hielten? Vielleicht warten sie nur auf eine offene, wertschätzende interne Kommunikation, um sich zu erkennen zu geben. Bewährt haben sich drei Wege: eine Taskforce zu gründen, geachtete Meinungsbildner ins Boot zu holen und mit dem Projekt an einem Standort zu beginnen und es dann unternehmensweit auszurollen.

Barrierefreie Mitarbeitersuche

Ist das intern vorhandene Potenzial erst einmal gehoben und das Employer Branding feingeschliffen, geht es an die Ansprache externer Talente. Dazu braucht es zuerst eine barrierefreie Unternehmenswebsite. „Viele wissen gar nicht, dass ihre Site für eine große Anzahl von User nicht oder nur eingeschränkt lesbar ist“, sagt Werner Rosenberger, Projektleiter bei WACA (Web Accessibility Certificate Austria). „Abgesehen davon, dass künftig immer mehr Maschinen wie Alexa & Co auf Online-Daten zugreifen. Das ist bei manchen Websites noch gar nicht möglich.“ Eine barrierefreie Website ist für Screenreader tauglich, tastaturbedien- und maschinenlesbar. Unverhältnismäßige Barrieren bei Websites und -shops, Apps und Jobseiten können den Tatbestand der Diskriminierung erfüllen und Schadenersatzforderungen nach sich ziehen. Es empfiehlt sich daher, sie alle zu überarbeiten. Sind die technischen Herausforderungen gelöst, überarbeitet man die eigenen Jobausschreibungen. Sprechen sie alle Menschen an? Sind interne Ansprechpartner genannt? Gibt es veröffentlichbare Good Practices, vielleicht eine Disability Charta? Wichtig ist, in den Inseraten zwar deutlich zu sagen, dass sie sich auch an MmB richten, nicht aber einzuschränken, an welche. Dafür kommen spezialisierte Jobplattformen in Frage, aber auch allgemeine, auf denen geeignete Stellen eigens markiert werden können. Und es gibt Dienstleister wie Y³, die sich genau auf diese Personalreserve konzentrieren. „Unser Argument ist Zeitarbeit, mit der man sich auch über Monate risikolos an die MitarbeiterInnen gewöhnen kann“, sagt Geschäftsführer Jürgen Atzlsdorfer. Ziel ist natürlich die Übernahme. Expertentipp für Bewerbungsgespräche: sich auf die Person konzentrieren statt auf den Job und herausfinden, ob sie passt. Etwaige Anpassungen des Arbeitsplatzes klammert man vorerst aus. Für die gibt es ohnehin Förderungen.

Aus einem werden mehrere

Die künftigen Kollegen wissen am besten, welche Hilfsmittel und baulichen Veränderungen sie brauchen. Andernfalls helfen spezialisierte Berater und Anbieter. Idealerweise ist das vor dem ersten Arbeitstag erledigt. MmB sollte man unbedingt ein Mentor zur Seite stellen, der durch die ersten Monate führt. Bewährt sind auch eindeutige disziplinäre Zuordnungen, Vorstellungsrunden und das offene Ansprechen aller Besonderheiten. Weiters ein Einarbeitungsplan, wöchentliche Feedbacks und eine strukturierte Reflexion nach etwa drei Monaten – nicht anders als bei anderen Kollegen. Nach den ersten Erfahrungen wird üblicherweise das Thema Behinderung in alle Aus- und Weiterbildungsaktivitäten integriert. So wird die gesamte Belegschaft sensibilisiert und weitere Initiativen angestoßen. Typischerweise sind das Artikel in der Mitarbeiterzeitung, ein internes Netzwerk oder ein Mitarbeiter-bringen-Mitarbeiter-Anreizsystem. Oft vernetzt sich HR auch mit anderen Unternehmen, um aus deren Erfahrungen zu lernen.
Dann dauert es nicht mehr lange, bis auch Kunden und Markt reagieren – und zwar durchwegs positiv.

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