Zeitpillen

Kolumne
02.06.2015

Angenommen, es gäbe eine Zeitpille, mit der sich Zeit auf wundersame Weise einsparen ließe. Was würden Sie mit den gewonnenen Minuten, Stunden, Tagen tun wollen? Eilig weitermachen wie bisher? Mehr vom Gleichen schaffen? Etwas ganz Anderes, Neues anpacken? Oder es langsamer angehen? Ausspannen? Flanieren und der Muße frönen?

Eine hinreißende Antwort gab schon vor rund 70 Jahren Antoine de Saint-Exupéry in „Der kleine Prinz“, einem der 20 meistgelesenen Bücher der Welt. Es ist seit 2015 gewissermaßen vogelfrei, weil die Urheberrechte verjährt sind. Und Exupérys liebenswertes wie zeitlos faszinierendes Buch wird wohl inflationäre Neuauflagen und so manch zweifelhafte Neuübersetzungen erfahren. In Kapitel XXIII (Ausgabe 1950, Verlag Arche Zürich) kreuzt der Pillenverkäufer den Weg des Prinzen…

„GUTEN TAG“, sagte der kleine Prinz.
„Guten Tag“, sagte der Händler.
Er handelte mit höchst wirksamen, durststillenden Pillen.  
Man schluckt jede Woche eine und spürt überhaupt kein Bedürfnis mehr, zu trinken.
„Warum verkaufst du das?“ sagte der kleine Prinz.
„Das ist eine große Zeitersparnis“, sagte der Händler.
„Die Sachverständigen haben Berechnungen angestellt. Man erspart dreiundfünfzig Minuten die Woche.
„Und was macht man mit diesen dreiundfünfzig Minuten?“
„Man macht damit, was man will…“
„Wenn ich dreiundfünfzig Minuten übrig hätte“, sagte der kleine Prinz, „würde ich ganz gemächlich zu einem Brunnen laufen…“

Zeit is(s)t Geld

In der Figur des Pillenverkäufers bringt Exupéry seine Zeit- und Zivilisationskritik schlicht, aber brillant zum Ausdruck. Zeit ist Geld. Effizienz ist alles. Minutiös wird der Mensch den Taktschlägen der Maschinen unterworfen, alles muss schnell gehen. Pillen zu schlucken geht schneller, als Wasser zu trinken. Und mit Pillen lässt sich viel Geld verdienen. Pillen stören auch den durchgeplanten Arbeitsablauf weniger als Wassertrinken. Der Mensch ist getaktet und ökonomisiert. Das jedenfalls sind die Bilder einer vor allem im früheren 20. Jahrhundert weit verbreiteten Zivilisationskritik. Einer Zeit, in der die Industrialisierung Europa vollends erfasst hatte.

Und heute? Lamento wie Glorifizierung halten sich im Techno-Zeitalter die Waage. Und die kommende Total-Digitalisierung – Stichwort Industrie 4.0 bzw. Arbeitswelt 4.0 – wird ohnedies jegliche Gewohnheiten über den Haufen werfen. Jedenfalls, wenn man Prognostikern Glauben schenken will. Fakt ist jedenfalls, dass die Zeitnöte und Widersprüche schon oder auch im heutigen 2.0 und 3.0 reichlich wuchern. Und Exupérys Pillenhändler ist eiliger und geschäftiger denn je unterwegs.

Das Zeitglück beim Schopf packen

Die Zeitpillen-Story hat auch deshalb eine zeitlose Relevanz, weil sie mit Achtsamkeit zu tun hat. Und Achtsamkeit hat wiederum viel mit dem Bewusstsein zu tun, dass wir allein die Qualität von Zeit verändern können – und niemals die Quantität. Denn eine Stunde hat, ob wir das wollen oder nicht, exakt 60 Minuten und eine Minute 60 Sekunden. Wir können ebendiesen 60 Sekunden pro Minute nicht mehr Länge geben. Aber wir können ihnen mehr Tiefe und Gehalt geben, also mehr Qualität.

Und Qualität hat per se wenig bis nichts zu tun mit einem Schneller, Höher, Weiter. Es geht nicht um ein Verdichten, sondern um ein Vertiefen. Nicht um ein Einsparen, sondern um ein Sparsamer, Sorgfältiger. Es geht um den achtsamen Umgang mit unserer Zeit, um das Wahrnehmen von einzigartigen Momenten und Gelegenheiten. Denn in Wirklichkeit können wir keine Zeit sparen oder verlieren, sondern nur Gelegenheiten! Gelegenheiten, die sich uns oft nur ein einziges Mal bieten und einen unbezahlbaren Zeitschatz in sich bergen. Im Volksmund heißt es ja treffen: Das Glück beim Schopf packen!

Zeittaschen statt Zeitpillen

Das Zeitglück beim Schopf zu packen könnte auch heißen, für sich selbst kleine „Zeittaschen“ in den Alltag einzubauen. Momente des Innehaltens, Stillseins, Auftankens. Um dabei die Qualität des Ganz-bei-sich-Seins oder des Tue-was-du-Tust zu erfahren. Schon eine alte Zen-Weisheit lehrt uns: „Wenn du eine Zwiebel schälst, schäle sie. Wenn du Tee trinkst, trinke Tee. Wenn du isst, dann esse. Etc.“

Versuchen Sie etwa die 1-Minute-für-mich-Übung „Atem schöpfen“ (s. Kolumne „Ach, du liebe Zeit“, Mai 2014). Oder erhöhen Sie die Qualität des Schlafes, indem Sie abends das Ritual „Geistige Mülltrennung“ pflegen. Dabei geht es schlicht darum, jene Dinge des vergangenen Tages ins Bewusstsein zu rufen, die gut waren – und die nicht so toll waren. Verabschieden Sie sich geistig bewusst von den negativen Dingen und Gedanken. Und sagen Sie bewusst DANKE zu jenen Dingen, die erfreulich waren. Denn Dankbarkeit macht das Herz weit.

Apropos: Wann haben Sie zuletzt von Herzen „Ich bin so richtig dankbar!“ sagen können? Verpassen Sie diese besonderen Momente nicht. Und gehen Sie gemächlich zu Ihrem ganz persönlichen inneren Brunnen. Um zu schöpfen. Atem. Wasser. Energie.

Übrigens: Der in der Wüste notgelandete Pilot machte sich mit dem kleinen Prinzen auf die Suche nach rettendem Wasser. Erst hoffnungslos, weil es sinnlos schien, auf gut Glück in der Endlosigkeit der Wüste einen Brunnen zu finden. Aber bestimmte Schätze bleiben verborgen, wenn man sie nicht mit dem Herzen sucht. Und es mache die Wüste schön, dass sie irgendwo einen Brunnen berge, so der kleine Prinz. Er schlief ein. Der Pilot nahm ihn auf seine Arme und ging nachts weiter. „Und während ich so weiterging, entdeckte ich bei Tagesanbruch den Brunnen.“