Wie Ungewissheit erträglich wird

Covid lehrt uns die harte Entwöhnung vom gewohnten Habitus, der da lautete: Alles da, alles machbar, alles möglich, überall und jederzeit. Der Abschied von der Gewohnheit, unbequeme Spannungen, Widersprüche oder Begrenzung kaum mehr aushalten zu müssen, katapultiert uns aus der Komfortzone. Abrupt und unsanft. Deshalb wird eine Fähigkeit mehr denn je gefragt sein, die beinahe vergessen schien: Ambiguitätstoleranz.

Zugegeben, der Begriff kommt etwas sperrig und akademisch daher. Aber dahinter verbirgt sich eine höchst alltagsrelevante Qualität. Eine, die notwendigerweise geläufiger werden wird, als uns lieb ist. Und zwar individuell, gesellschaftlich wie unternehmerisch. Ähnlich wie vormals noch exotische Termini wie Burnout, Resilienz, Kohärenzgefühl – oder aktuell Lockdown.

Was sich dahinter verbirgt

Die sogenannte Ambiguitätstoleranz (von lat. ambiguitas für „Zweideutigkeit“, „Doppelsinn“) wird auch als Unsicherheits- oder Ungewissheitstoleranz bezeichnet. Damit ist die Fähigkeit gemeint, Ambiguitäten, d.h. Widersprüchlichkeiten und Mehrdeutigkeiten nicht nur auszuhalten, sondern konstruktiv zu verarbeiten. Die Psychologin Else Frenkel-Brunswik definierte die Ambiguitätstoleranz als eine messbare Fähigkeit, die Koexistenz von positiven und negativen Eigenschaften in ein und demselben Objekt erkennen zu können. Bloßes Schwarz-Weiß-Denken hielt sie für ein Extrem der Ambiguitätsintoleranz.

Ambiguität kann sich auch auf mehrdeutige Informationen oder Sachverhalte beziehen, die per se nicht negativ, aber auch nicht vorbehaltlos positiv zu bewerten sind. Allein der höchst widersprüchliche Covid-Diskurs zeigt, wie schwierig es mitunter ist, vermeintlich oder tatsächlich Vernünftiges von verquerer Verschwörung zu unterscheiden.

Was Ambiguität auslöst

Wenn aber Situationen oder Menschen tatsächlich unberechenbar und unkontrollierbar erscheinen, löst das bei gleichzeitig geringer Ambiguitätstoleranz Stress und Unbehagen, ja mitunter irrationale Reaktionen aus (Stichwort WC-Papier-Hamstern). Menschen bzw. Organisationen tendieren dann dazu, die gewohnte Ordnung bzw. Sicherheit mit übereilten und unreflektierten Regelmechanismen wiederherzustellen. Oder mit Auslagerung à la: „Wer nicht mehr weiterweiß, bildet einen Arbeitskreis.“ Oder es treten übersichere Gurus und Retter auf den Plan, deren vermeintlich richtigen bzw. eindeutigen Wahrheiten reichlich Resonanzboden finden, massentaugliche Deutungshoheit inklusive.

Eine extreme Form von Ambiguität ist Unsicherheit im engeren Sinn, wenn etwa keinerlei Wahrscheinlichkeitsvorstellungen bestehen – z.B. in Bezug auf Sinn oder Wirksamkeit einer Maßnahme. Wir hätten demnach eine extremes Ambiguitätsproblem, würden die Pandemie-Ursachen längerfristig diffus bleiben und ergo dessen auch jegliche Interventionen ins Leere gehen, Impfung inklusive.

Ein wesentliches Dilemma des Ambiguitätsgefühls besteht also darin, dass es keine einfachen Ursache-Wirkungszusammenhänge gibt, die Parameter wechseln und etablierte Modelle oder Strategien ihre Wirkung verfehlen. Deshalb wäre ein Paradigmenwechsel in unserem Denken und Handeln angesagt, d.h. uns von gewohnten Erwartungshaltungen zu verabschieden, dass auf ein Problem auch eine unmittelbare bzw. verlässliche Lösung folgen muss. Abschied von der „Alles-ist-möglich-Hybris“ inklusive.

Worin wir gefordert sein werden

Wir werden demnach in unserer Ambiguitätstoleranz gefordert sein, es auszuhalten, dass…

  • es nicht die oder auch mitunter keine Lösung gibt, jedenfalls vorerst
  • das Lösen eines Dilemmas Zeit und Dialog braucht
  • der Weg dorthin mit Versuch und Irrtum gepflastert sein kann.

Wir werden nicht nur die Ambiguität aushalten müssen, dass substanzielle Antworten oder Lösungen Zeit benötigen. Auch deren Relevanz und Wahrheitsgehalt werden fragwürdig bleiben, ein Ablaufdatum haben. Oder um mit Karl Popper zu sprechen: „Wir wissen nicht, wir raten.“ Unser Wissen ist demnach sinngemäß nur der gegenwärtige Stand des Irrtums.

Umso klüger wäre es, sich etwa der Klärung der Frage zu stellen: Wie soll die Welt bzw. Situation konkret aussehen, wenn das Dilemma gelöst ist? Verbunden mit der keineswegs nur ökonomischen, sondern vielmehr auch ethischen Frage: Wollen wir es weiter so, wie wir es uns eingerichtet haben?Und wenn nicht, was ist zu tun?

Wie überhaupt es Sinn machte, mehr Fragen zu stellen, als vorschnelle Antworten zu produzieren. Es könnte auch unsere Ambiguitätstoleranz nachhaltig unterfüttern, würden wir mehr sinn- und vorwärtsgewandte Wozu-Fragen und nicht bloß beklagend-rückwärtsgewandete Warum-Fragen stellen. Etwa wie: „Wozu ist das gut?“ Oder mit aktuellem Bezug: „Wozu ist die Krise passiert?“ Erhellende Erkenntnisse nicht ausgeschlossen. Etwa jene, dass das Gezeter um temporäre Einschränkungen individueller Freiheiten letztlich Petitessen sind. Selbst zu Weihnacht oder Neujahr.