Was Leonardo da Vinci und modernes Marketing gemeinsam haben

Psychologie
16.12.2019

 
Zum 500. Todestag Leonado da Vinci sind zahlreiche Ausstellungen und Publikationen dem bildnerischen und erfinderischen Werk dieses Künst­lers und Universalgelehrten ge­widmet. Der Mediendramaturg Christian Mikunda unternimmt an Hand dreier Beispiele den Versuch, den Einfluss Leonardos auf moderne Erlebniswelten und damit in Zusammenhang auf die „Ladendra­maturgie“ aufzuzeigen.
Der Mediendramaturg Christian Mikunda erklärt, welchen Einfluss Leonardo da Vinci auf die moderne Ladengestaltung hat.
Der Mediendramaturg Christian Mikunda erklärt, welchen Einfluss Leonardo da Vinci auf die moderne Ladengestaltung hat.

Als Christian Mikunda einen kleinen verwunschenen La­den in Vene­dig betrat fiel ihm sofort etwas auf. Ein glühend rotes Tuch auf dem Kopf eines Mannes leuchtete aus dem Halbdunkel des Geschäfts. Seine gera­dezu hypnotische Wirkung ent­faltete das Ölgemälde Jan van Eyks durch das überbelichtete Gesicht des Turbanträgers. Diese Abweichung registriert man nicht bewusst, sie führt jedoch dazu, dass man wie ge­bannt auf das Bild starrt. Wie in Trance kaufte er damals die exzellente Kopie und damit begann für ihn das Abenteuer der Hypnoästhetik. In der Londoner National Gallery ent­deckte Mikunda die "Felsgrottenmadonna" Leonardo da Vincis (1493). Leonardo be­nutzte denselben Effekt der Überbelichtung, nur noch viel deutlicher. Seine Ma­donna samt Engel hat eine extrem hell leuchtende Haut, die den Blick zwischen der unendlich tiefen Urzeit­landschaft im Hintergrund und den Personen in Vor­dergrund schweifen lässt.

Aufmerksamkeit durch Tabubruch

Sprung in die Gegenwart: Nicht weit vom Museum liegt im Eingangsbereich des Dover Street Market der skelettierte Schädel eines Tigers neben edlem Schmuck und Lederac­cessoires. Ein Kunde steht davor und kann den Blick nicht wenden. Im Schaufenster von YMC liegt neben einem kleinen Tierskelett eine echte Holzprothese aus dem Ersten Welt­krieg. Im Laden selbst sind Klei­dung und Taschen schick, doch der Blick wandert immer wieder zu jenem künstlichen Bein im Eingangsbereich. Für Leonardo und die verrückten Concept-Stores gilt das Gleiche: alle arbeiten mit geziel­ten Tabubrüchen, um den Zuseher aus dem Gleichgewicht zu bringen. Destabilization sa­gen die Hypnotherapeuten wie Jeffrey K. Zeig dazu. Wie durch einen Spritzer kalten Was­sers ins Gesicht wird man seelisch geöffnet und wird begierig nach dem nächsten Stroh­halm, um sich innerlich wieder zu stabili­sieren. Das sind Bestandteile der schweren Ge­schütze, die der stationäre Ein­zelhandel auffährt, um sich gegen den Online-Handel zu wappnen.

Ein anderes Beispiel bei Leonardo: die Mona Lisa zieht den linken Mundwinkel höher als den rechten, und der Schatten in der linken Augenhöhle ist tiefer. Wir haben also zwei Mona Lisas in einem Bild und versuchen instinktiv, diese Dis­sonanz aufzulösen, wollen er­gründen, was die junge Dame wohl denkt oder fühlt. Destabilization führt immer dazu, dass wir hinter etwas blicken möchten. So wird die Kom­munikation vielschichtiger und tiefsinniger. Zeitgenössische Bei­spiele sind etwa die Schau­fensterpuppen von Zara, bei denen eine Wimper auf die Wange heruntergerutscht ist oder die Kunstfigur Conchita Wurst. Warum wurde nun aber ein Renaissancemaler wie Leonardo zum Urvater des modernen Erlebnismarketings? Weil er durch seine anatomischen Studien und seinen Röntgenblick, der ihn die Flügelbewegungen der Libelle sehen ließ, ein Bewusstsein entwickelte, wie man den trägen Blick der Alltagsmenschen zum forschenden Renaissanceblick weiterent­wickeln könnte. So schuf er Gemälde, die uns noch heute bewegen, und zeigte den Men­schen, dass auch sie Mona Lisa sein können.

Spiegeleffekte damals und jetzt

Leonardo tüftelte aber auch an einem achteckigen Raum mit mannshohen Spiegeln, "der dem darin Stehenden eine unendliche Spiegelung der eigenen Person in alle Richtungen " geboten hätte. Das Projekt scheiterte, weil man da­mals so große ebene Spiegel nicht herstellen konnte. Erst im 19. Jahrhundert war die Technik dafür so weit. Das markierte auch den Beginn der Spiegellaby­rinthe. Dabei werden raumhohe Spiegel in einem Winkel von zumeist 60 Grad so angeordnet, dass man unendlich große Räume zu sehen glaubt, aber dabei ständig auf die Illusion scheinbarer Korridore hereinfällt und aufgekratzt im La­byrinth herumirrt: Irritation der Wahrnehmung. Heute werde solche Trance-Effekte mit Videowänden oder LED-Screens ver­bunden. Der italienische Pavillon während der Expo 2015 in Mailand, die LED Fassade von Casinos Austria in Bregenz oder des Uniqa-Gebäudes in Wien sind Beispiele für Trance-Effekte in der modernen Erlebnisgesellschaft.

Abendmahl und Kastner & Öhler

Da sitzen 13 Leute an einem Tisch und ganz offensichtlich ist das ein Wandfres­ko. Aber der Künstler Leonado da Vinci hat durch Zentralperspektive die perfek­te Integration   sei­nes "Letzten Abendmahls" in das Refektorium vor Ort ge­schafft, so dass man die Träger­wand des Bildes nicht registriert. Goethe be­merkte dazu "Es muss zur Speisestunde ein bedeutender Anblick gewesen sein, wenn die Tische des Priors und Christi als zwei Ge­genbilder aufeinander blickten und die Mönche an ihren Tafeln sich dazwischen einge­schlossen fan­den". Leonardo war einfach das größte hypnoästhetische Genie aller Zeiten. Im Grazer Haupthaus von Kastner & Öhler hängen weiße Kokons aus einem fi­berglasartigen Material im Halbdunkel von der Ecke herab. Ein Schlitz bei je­dem Kokon ist schon ge­öffnet und durch diesen sieht man Modeartikel hängen. Zunächst ist der Kokon noch ganz geschlossen, dann öffnet er sich von Tag zu Tag ein wenig mehr und jeden Tag sieht man so auch mehr von der Ware, um die es eigentlich geht. Das Mysteriöse der Installation ist tatsächlich Teil des Vi­sual Merchandising - dem In-Szene-Setzen von Ware im Einzelhan­del. Trance, so scheint es, ist jetzt tatsächlich überall. So schließt sich der Bogen der in der Renaissance begann, heute in der modernen Ladengestaltung.

Buchtipp: „Hypnoästhetik
Die ultimative Verführung in Marketing, Handel und Architektur von Christian Mikunda Erschienen bei: Econ Verlag 272 Seiten, zahlreiche Abbildungen ISBN-13: 9783430202671