Pole pole watamu

Schweifer
22.07.2014

„Pole pole watamu - langsam, langsam, weißer Mann!“ Der kenianische Aufruf zur Bedächtigkeit ist unserer westlichen Kultur eher fremd. Wir werden vielmehr angetrieben von einem ungebremsten „Schneller, schneller“. Moderate Bremsmanöver zwischendurch könnten Zeitwunder wirken. Eine Einladung zu einer entschleunigten Zeit-Zug-Reise. Grenzüberschreitend.

Zeit – eine Illusion
Es mag komisch bis irritierend klingen, aber die „Zeit“ als solche existiert in Wirklichkeit gar nicht. Sie ist vielmehr eine Erfindung des Menschen, eine Hilfskonstruktion, die der Ordnung und Orientierung dient. Die vertraute Dreiteilung der Zeit bzw. Zeitlinie in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft hat etwa Friedrich Schiller in seinen „Sprüchen des Konfuzius“ mit einem Eisenbahnzug verglichen – bestehend aus einem vorderen, mittleren und letzten Teil.

„Dreifach ist der Schritt der Zeit:
Zögernd kommt die Zukunft hergezogen,
Pfeilschnell ist das Jetzt entflogen,
Ewig still steht die Vergangenheit.“

Dieses Zeitverständnis ist im Wesentlichen bis heute geblieben. Das subjektive Zeiterleben ist allerdings ungleich verdichteter, eiliger, verwaschener als zu Schillers Zeiten: Alles. Gleichzeit. Sofort.

Die gute Nachricht
Gerade weil Zeit eine menschliche Erfindung ist, müssen wir nicht zwangsläufig ihr Sklave sein. Denn wir können uns darauf einigen, wie wir mit Zeit umgehen wollen. Für den Einzelnen ist das wiederum eine eher schlechte Nachricht, jedenfalls eine Herausforderung: Denn als Individuum entkommen wir nicht oder nur mit Mühe dem kollektiven Zeitverständnis. Individuelle Zeit ist durchwegs eng an soziale Zeit gekoppelt. Auch Gruppen sind keineswegs zeitautonom, sondern eingebunden in das Zeitverständnis ihrer jeweiligen Kultur. Aber einen Vorteil mag die pluralistische Gesellschaft haben: Sie ermöglicht das Nebeneinander verschiedener Zeitzugänge und individueller Freiheiten.

Zeit-Haltestellen
Umso mehr soll es uns ermutigen, individuelle Zeitnischen zu kreieren und schöpferische Haltestellen in die gewohnte Taktung einzubauen. Konkret: Wie wäre es, wenn wir beispielsweise die Schiller´sche Zeitzug-Metapher und das afrikanische „Pole pole watamu“ verbinden?
Stellen Sie sich vor, Sie stünden an einem Bahnsteig, an dem eben „ihr“ Zug anhält. Sie steigen im mittleren Wagon, also in der Gegenwart, ein, nehmen bequem Platz. In einem Abteil, exklusiv für Sie.  Ein Signal ertönt und der Zug setzt sich in Bewegung. Gleichzeitig damit setzen sich auch ihre Gedanken in Bewegung. Gedanken, die Antworten auf  Fragen wie folgt nachgehen:

Wie spürt sich die „Reisegeschwindigkeit“ im gegenwärtigen Leben an?

  • Welche „Haltestellen“ sind wichtig? Fehlen welche?
  • Läuft alles gut „auf Schiene“, in die richtige Richtung? Oder stehen Weichenstellungen an?
  • Überwiegt das Gefühl, Mitfahrende/r zu sein? Oder Zugführende/r?
  • Und wie lautet das Ziel der Reise? Wo möchten Sie ankommen? Mit wem?

Genießen Sie ihre Fahrt. Spontan weitere Fragen und Assoziationen kreierend. Ohne Eile.
Wie heißt es doch bei Schiller an späterer Stelle: „Wähle nicht die fliehende [Zeit] zum Freund, / Nicht die bleibende zum Feind.“ Pole pole. Weißer Mann, weiße Frau.