Krise & Zeit – Leere als Lehre?

Zeit
01.04.2020

Die postmoderne Tempokultur hatte die Eiligkeit zur Heiligkeit erhoben – begleitet vom allpräsenten Lamento „Keine Zeit!“. Bis jetzt. Aber in der viralen Krise ist „u(h)rplötzlich“ alles, jedenfalls vieles völlig anders, zumindest für das Gros der bisher Eiligen: Zwangsentschleunigung, Stillstand, Zeit. Viel Zeit. Mitunter mehr Zeit als uns lieb ist. Was aber, wenn sich Leerzeit als Lehrzeit entpuppt?

Im akuten Krisenmodus scheint sogar die rituelle Aufregung rund um die jährlich Zeitumstellung nahezu verstummt zu sein. Immerhin wird vereinzelt gescherzt, die Umstellung auf Sommerzeit würde eine Stunde weniger Isolation bedeuten. Aber allen Scherzen zum Trotz bleibt der Eindruck, als stünden bisher gewohnte (Zeit-)Logiken kopf. Und als säßen wir alle in einem Riesen-Laboratorium mit verkehrter Versuchsanordnung – als ver(w)irrte und verlangsamteInsassen, nicht als gewohnt souveräne Macher oder Regisseure, die am Test-Schalter sitzen.

So wie in einem alten Cartoon vom Typus „verkehrte Welt“, in dem zwei überdimensionale Ratten in weißen Labormänteln auf eine Versuchsanordnung blicken. Am Schreibtisch ein schwitzender Mensch im hyperhektischen Stressmodus. Eine Ratte süffisant zur anderen: „Jetzt lassen wir einmal den Umsatz kräftig sinken und messen dann seine Stress-Symptome.“ Ähnlichkeiten mit der aktuellen Viruskrise sind rein zufällig, aber vorstellbar. Oder ist die pandemische Krise gar Teil eines bizarren, jedenfalls verrückten Corona-Experiments?

Wenn nicht bizarr, so zumindest reichlich absurd ist allemal, wie rapide der Homo Sapiens im globalen Krisenlabor die Contenance verliert und zum rasenden Hamster mutiert. Fehlt nur noch, dass krisenzeitgeistig die neue Profession des „CHOO“ (Chief Home Office Officer) ausgerufen wird. Aber zurück zu angemessener Ernsthaftigkeit und ein klärender Blick in den Krisen-Teich. Um später einen Gedankensprung vorwärts zu Sokrates zu wagen.

Gefahr versus Chance

Die sogenannte Krise ist zwar in aller Munde, aber deren Kernbedeutung geht in verwässerten Zeiten zuweilen unter. Dabei kann eine Klärung erhellend sein. Krise – vom Griechischen krísis (ursprünglich „Meinung“, „Beurteilung‘“, „Entscheidung“) – bezeichnet einen Höhepunkt oder Wendepunkt einer kritischen Lage. Sie ist also eine Zeit der Entscheidung und Wendung. Entweder zum Guten, zur Katharsis (Reinigung). Oder zum Schlechten, zur Katastrophe (Niedergang). Ein kritischer Wendepunkt in der Handlung ist schon im antiken griechischen Drama ein zwingender Kunstgriff. Er ist jener Punkt, an dem sich das Schicksal des Helden zum Glück oder Unglück entscheidet.

Jeder Krise ist also immanent, dass sie zur Gefahr oder zur Chance, zur Leere oder Lehre werden kann. Dabei geht es nicht um Pseudo-Positivismus. In verheerenden Situationen kann es blanker Zynismus sein, salbungsvoll von „Krise als Chance“ zu säuseln. Aber grundsätzlich sind wir gefordert, Wendezeiten aktiv zum Guten zu wenden und nicht passiv dem Schicksal zu überlassen – selbst dann nicht, wenn wir als Labor-Insassen den übermächtigen Ratten im eingangs erwähnten Experiment ausgeliefert scheinen.

Menschen offenbaren in Extremsituationen ihre Widersprüchlichkeit umso deutlicher: einträchtig und niederträchtig, großmütig und kleinkariert, gutherzig und egomanisch. Und es kommt all das schriller zum Vorschein, was wir sonst gut zu verbergen vermögen – auch vor uns selbst. Aber letztendlich ermutigend in dem Zusammenhang: Es zeigt sich immer wieder, dass gerade in der Not, fernab der Komfortzone, besondere Tugenden entwickelt werden und Krisen den menschlichen Erfindungs- und Problemlösungsgeist erst recht beflügeln.

Und in schwierigen Zeiten muss man mit allem rechnen, auch mit dem Guten. Oder wie Alexis de Tocqueville meinte: „Der Mensch bleibt in kritischen Situationen selten auf seinem gewohnten Niveau. Er hebt sich darüber oder sinkt darunter.“

Kunst des Fragens ist gefragt

„Rat-Schläger“ haben besonders in Krisenzeiten Saison. Deren Sprechblasen gehen vielfach ins Leere und lassen die Beratschlagten umso ratloser zurück. Dabei kann Leere, wie wir sie in der aktuellen Zwangsentschleunigung ungewollt und ungebremst erfahren, auch eine luzide Lehre sein. Unter anderem könnte dabei Sinn machen, bei Sokrates nachzuschlagen.

Sokrates akzeptierte bekanntlich weitschweifige Reden über den Untersuchungsgegenstand nicht, sondern bestand auf einer möglichst direkten Beantwortung seiner Frage. Wie überhaupt im sokratischen Gespräch die Frage absoluten Vorrang hat – und nicht die vorschnelle, „gescheite“ Antwort. „Ich weiß, dass ich nicht weiß.“ So gestand er selbst ein. Aber seine Kunst des Fragens vermochte beim anderen überraschend neue Erkenntnisse auszulösen. Und diese Kunst des Fragens ist in heutigen Krisenzeiten gefragter denn je.

Einer, der diese Kunst offenkundig außergewöhnlich beherrschte, schien Kardinal Franz König gewesen zu sein. Als Hochbetagter erlitt er 2003 einen Oberschenkelhalsbruch und meinte, am Ende seines Weges angelangt zu sein. So die Erzählung Annemarie Fenzls, der langjährigen Leiterin seines Sekretariats. Aber es kam anders: Noch im selben Jahr feierte er seinen 98. Geburtstag mit einem Glas Sekt und fasste unverdrossen Mut. Und seine famose Conclusio daraus, quasi als sokratisch (Hinter-)Fragender: "Ich habe mir gedacht, ich darf nicht hadern und fragen: Warum ist mir das passiert? Ich muss die Frage anders stellen, ich muss fragen: Wozu ist mir das passiert? Was ist der Sinn dahinter?

Wozu?

Fragen nach dem Warum können durchaus Sinn machen – besonders in Krisenzeiten. Es ist gewiss nicht falsch, ja Not_wendig, Gründe zu erforschen und daraus zu lernen. Aber ein Warum zielt tendenziell nach hinten, forscht nach vermeintlichen oder tatsächlichen Ursachen in der Vergangenheit, sucht Schuldige, provoziert Verteidigung, lässt mit dem Schicksal hadern oder im Selbstmitleid suhlen.

Fragen nach dem Wozu hingegen sind vorwärtsgewandt, wirken erhellend und erweiternd. Sie bekommen ein ganz anderes Gewicht – genauso wie das Problem, die Niederlage, das Scheitern. Sie werfen uns auf uns selbst zurück und fragen nachhaltig nach dem Sinn. Und Sinn ist bekanntlich der stärkste Motor für Ermutigung und Veränderung.

Was also, wenn wir angesichts der Krise nicht nur fragten: WARUM ist sie passiert? Sondern vor allem auch: WOZU? Und was, wenn die übergroßen Labor-Ratten darauf antworteten? Aber lassen wir doch zuletzt ermutigend Leonard Cohen zu Wort kommen. Ring the bells, that still can ring. Forget your perfect offering. There is a crack in everything. That's how the light gets in.“