Digitalisierung im Handel – ein Muss, keine Option

E-Commerce
31.08.2021

Rund eineinhalb Jahre Covid-19 haben in der Handelsbranche tiefe Spuren hinterlassen. Eine Analyse zu Herausforderungen und Chancen vom Marken- und Handelsexperten Helmut Kosa.

Neun von zehn österreichischen Kunden kaufen seit Beginn der Pandemie gleich viel oder viel mehr online ein als zuvor. 43 Prozent besorgen nun andere bzw. weitere Produkte übers Internet, die sie davor nur in stationären Filialen erworben haben. Lediglich drei Prozent verzichten generell auf Einkäufe in Webshops. Das hat vor Kurzem die repräsentative Studie „Post Corona-Consumer“ von TQS Research & Consulting und dem Marketing Circle Austria ergeben, für die 1.000 Österreicherinnen und Österreicher im Alter von 18 bis 65 Jahren befragt wurden. Während sich jeder Lockdown –abgesehen vom geöffneten Lebensmitteleinzelhandel – wie ein Amazon-Förderprogramm ausgewirkt und die Post Paket-Zustellrekorde gefeiert hat, stehen viele heimische Händler vor großen Herausforderungen. Um Umsätze wieder rasch anzukurbeln, müssen sie jetzt Kunden wieder in ihre Filialen locken. Gleichzeitig soll der Onlinehandel auf- bzw. ausgebaut werden. Manche werden aus Kostengründen vielleicht auch ihren filialisierten Vertrieb aufgeben und ihr Geschäftsmodell auf reinen Onlinevertrieb umstellen. Laut der TQS-Studie waren lediglich fünf Prozent der Befragten seit den Lockerungen wieder im stationären Handel einkaufen, das Shoppen im Geschäft macht heute für mehr als die Hälfte der befragten Kunden weniger Freude als vor der Pandemie.

Learnings aus Lockdowns und Lockerungen

Welche Implikationen ergeben sich nun für Handelsunternehmen aus dem geänderten Einkaufsverhalten? Wie sollte die Branche darauf reagieren, um sich krisenfest und zukunftsfit aufzustellen? Aufgrund der Vielfältigkeit der Handelssparten, die unterschiedlich stark betroffen sind, kann man nur schwer generalisieren. Dennoch lassen sich grundlegende Trends feststellen, insbesondere anhand von drei Teilaspekten: Erstens der Digitalisierungs-Boom generell, zweitens die Verknüpfung der Vertriebs- und Kommunikationskanäle – Stichwort Multi- und Omnichannel –, und drittens Kundenerlebnis und -bindung.

Digitalisierung: Fragt, was analog bleiben kann

Was den Digitalisierungstrend im Allgemeinen betrifft, hat Corona die schon seit Jahren laufende Entwicklung nochmals massiv beschleunigt. Wie die Zahlen belegen, ist der Corona-Kunde noch stärker zum Online-Shopper geworden – und der Post-Corona-Kunde wird es aller Voraussicht nach auch bleiben. Der Handel hat somit keine Wahl zwischen Online-Sein oder -Nicht-Sein, es ist mittlerweile ein Muss, um Kunden immer und überall zu erreichen. Frei nach dem Autor und Internet-Vordenker Sascha Lobo könnte man auch sagen: Der Handel sollte nicht fragen, was digitalisiert werden muss, sondern was analog bleiben kann. Denn laut der Handelsverband/EY-Studie „Der österreichische Handel nach 15 Monaten Pandemie“ haben fast vier von fünf Händlern eine gesunkene Kundenfrequenz verzeichnet – durchschnittlich minus 31 Prozent.

Ganz anders das Bild im Onlinehandel: Der letzten „eCommerce Studie Österreich 2021“ des Handelsverbands zufolge entfallen von 9,6 Milliarden Euro Onlineumsatz bereits 2 Milliarden Euro auf den Mobile Commerce – mit einem massiven Zuwachs von 67 Prozent. Allerdings profitieren die heimischen Webshops nur bedingt vom Smartphone-Shopping, da mehr als jeder Zweite über ausländische Webshops bestellt und die Auslandsabfluss-Quote auf 55 Prozent gestiegen ist. Der heimische E-Commerce und Mobile Commerce haben hier also nach wie vor starken Aufholbedarf. Selbst der stationäre Corona-Profiteur Lebensmittelhandel hat während der Pandemie ein Internet-Einhorn hervorgebracht: Der Online-Supermarkt gurkerl.at, hinter dem das tschechische Start-up Rohlík steckt, hat dank internationaler Investments in dreistelliger Millionenhöhe vor Kurzem eine Firmenbewertung von rund einer Milliarde Euro erreicht.

Offline & online: Alle Kanäle nahtlos verknüpfen

Zu den wesentlichen Erfolgsfaktoren einer zukunftsfitten hybriden Vertriebsstrategie gehören Multi- bzw. Omnichannel. Diese Schlagwörter sind nicht wirklich etwas Neues. Umso verwunderlicher, dass viele Handelsunternehmen nicht darauf reagieren. Kunden wollen mehr denn je einfach, schnell und bequem einkaufen – egal wo, egal wann, egal über welchen Kanal, offline wie online. Daher müssen auf möglichst allen verfügbaren Kanälen reibungslose Interaktionsmöglichkeiten mit Marken, Produkten und Dienstleistungen geschaffen werden. Und diese Kanäle sollten im Hintergrund so verknüpft sein, dass Händler kanalübergreifend jedem Kunden ein optimales personalisiertes Shoppingerlebnis bieten, die Kundenbindung erhöhen und den Absatz steigern können. Wer diesen Service neben den physischen Standorten nahtlos auch im Webshop, via Shopping-App, Social Media, E-Mail-Newsletter und weiteren digitalen Kanälen bieten kann, hat große Chancen, zu den Gewinnern zu gehören. Der aktuelle „Omnichannel Readiness Index 2021“ von Handelsverband, Google und MindTake zeigt jedoch, dass auch hier Luft nach oben besteht: Während drei Viertel der 41 wichtigen österreichischen Einzelhändler pandemiebedingt digital aufgerüstet haben, offenbaren sich schon bei einfachen Onlineservices gravierende Mängel: Zwei Drittel der Konsumenten würden beispielsweise gerne auf der Produktseite Fragen zum Produkt stellen können, aber nur fünf Prozent der untersuchten Händler bieten dies an. Wenn solch essenzielle Funktionen den Kunden verärgern, dann ist die Abwanderung zu Amazon nur ein paar Klicks entfernt.

Positive Erlebnisse für nachhaltige Kundenbindung gefragt

Solch schlechte Kundenerlebnisse wirken sich heutzutage viel rascher negativ auf die Kundenbindung aus. Im Kampf um die digitale Gunst der Konsumenten ist es wichtiger denn je, durch positive Erfahrungen in der Interaktion mit Handels- und Produktmarken eine stärkere Verbindung mit den Konsumenten herzustellen und diese laufend über alle verfügbaren Kanäle zu pflegen. In der eingangs erwähnten TQS-Studie gaben beispielsweise 41 Prozent der Befragten an, dass Shoppen für sie nur denkbar ist, wenn der Handel ein Erlebnis bietet. Zum einen bedeutet das für stationäre Händler, dass sie durch besondere Services, Inszenierungen und Events, die im Digitalbereich nicht möglich wären, den Kunden ein „Live-Extra“ bieten. So können sie sich von anderen Händlern abheben und Kunden ins Geschäft holen. Zum anderen bedeutet das für Onlinehändler, dass sie die persönliche Kundenberatung und Service-Erlebnisse von der physischen in die digitale Welt übertragen müssen – etwa durch Beratungen per Videocall, Live-Chats aus der Filiale heraus, Chatbots oder Online-Fitting-Tools zur digitalen Anprobe.

Fazit

Insgesamt klafft zwischen den Ansprüchen der Post-Corona-Kunden und der Realität des Handels also noch eine Lücke, die es rasch zu schließen gilt. Für Handelsunternehmen ist es notwendig zu begreifen, dass die Digitalisierung keine Vielleicht-Option mehr ist, sondern ein Muss. Wer die Post-Corona-Kunden versteht und jetzt die richtigen digitalen Transformationsschritte einleitet, wird trotz Krise wieder wachsen können und auch in Zukunft wettbewerbsfähig sein.

Zur Person:

Marken- und Handelsexperte Helmut Kosa ist Managing Partner der Wachstumsberatung &US (www.and-us.com), die nationale und internationale Unternehmen aus unterschiedlichen Branchen von der Strategieentwicklung bis zur Implementierung von Wachstumslösungen berät.