Covid-19: Geschäfte geschlossen, Augen geöffnet?

Ruhezeit
22.04.2020

„Und wenn der ganze Wahnsinn vorbei ist, gönne ich mir ein paar ruhige Tage.“ Dass Humor und Ironie besonders in Krisen blühen, ist an sich nichts Neues. Aber in der viralen Quarantäne-Zeit kursierende Witze wie dieser offenbaren gleichzeitig pure Widersprüchlichkeit: Für krisenbedingt Zwangsverlangsamte mögen „ruhige Tage“ eher nach böser Provokation riechen. Für viele Zwangsbeschleunigte wiederum sind sie wohl eher eine noch ungestillte Illusion, meint Zeitforscher Franz J. Schweifer in seiner Kolumne. 

Widersprüche sind immanenter Teil unseres Daseins – wie etwa jene von Freiheit und Grenze, Bewahren und Verändern, Werden und Vergehen. Oder der existenzielle Widerspruch schlechthin: Leben versus Tod. Polaritäten werden in prekären Zeiten wie der aktuellen Corona-Krise umso virulenter. Sie fordern Antworten von uns auf ungewohnte, ungewollte, auch unbequeme Fragen und Situationen. Sie induzieren Resonanz auf die Erschütterung der gewohnten Komfortzone, verfolgt vom „Virus2Go“-Fieber.

Im Krisenzeit-Dilemma

Zeit ist relativ. Das ist nicht erst seit Einstein evident, sondern eine durchaus triviale Alltagserfahrung seit jeher. Selten aber war das so flächendeckend spürbar wie in diesen viralen Tagen. Ein paar Wochen Urlaub? Quasi ein gefühlter Wimpernschlag. Aber nämliche Zeit in eingeschränkter Bewegungsfreiheit und persönlicher Kontaktarmut? Eine lähmende Zumutung. Jedenfalls für viele jener Zwangsentschleunigten, die in Quarantäne ausharren sollten.

Im Gegensatz dazu etwa jene hyperbeschleunigten „System-Erhalter“ (wie im Gesundheits-, Pflege- oder Lebensmittelsektor Tätige), die im nervösen Dauerwettlauf mit der Zeit stehen. Ganz zu schweigen von weltweit Covid-Forschenden, die so schnell wie noch nie arbeiten, um einen wirksamen Impfstoff zu entwickeln. Die einen sehen sich „u(h)rplötzlich“ mit einer erdrückenden Ladung Verantwortung und (Lösungs-)Erwartung überhäuft. Ihnen läuft die Zeit sprichwörtlich davon. Die anderen wiederum haben eine gewaltige Wagenladung voller Gegenwart geschenkt bekommen – und können häufig damit wenig anfangen.

Hier unfreiwillige Langeweile oder Vereinsamung, dort alternativlos kurzatmige Eile. Die einen arbeiten irre, um etwa ihren Betrieb oder „das System“ am Leben zu halten. Die anderen sind zum Nichtstun verdammt, weil der Shutdown (fast) alles lahmlegt. Wiederum andere versuchen, via Home-Office das Beste aus dem Schlechten zu machen und verwandeln das private Zuhause zum Office-Home.

Darüber hinaus überrascht im Sog der krisenhaften Widersprüchlichkeit kaum, dass die Covid-Welle angesichts der surrealen WC-Papier-Hamsterei nicht bloß Abflüsse verstopft, sondern auch mitunter Hirnwindungen. Anders ist etwa der nicht minder surreale Einfallsreichtum der isländischen App „One“ kaum zu erklären. Sie verkuppelt Singles nicht nur auf Basis ihres Alters und Geschlechts, sondern ebenso anhand ihres Covid-19-Status´ (infiziert und genesen, nicht infiziert, in Quarantäne). Gewissermaßen Rilkes „Herbsttag“ viral reloaded, in dem es heißt: „Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben.“

Gebildete Hoffnung

Im ermutigenden Gegensatz dazu bleibt so etwas wie „gebildete Hoffnung“, von der etwa schon der Philosoph Ernst Bloch sprach. Diese Hoffnung ist kein platter Optimismus, kein naives Erwarten eines Happy End. Sie sagt, wir können auch scheitern. Sie ergründet auch das, was ist und geschieht. Sie verändert die Komfortzone zur „Komm-vor-Zone“. Sie fordert uns heraus, aktiv zu werden und das Hirn einzuschalten. Denn „Not-wendig“ heißt: In der Not müssen wir (geistig) besonders wendig sein und zu Handelnden der (Krisen-)Geschichte werden.

Was wir „Not-wendigerweise“ ebenso brauchen, ist nicht nur eine virale Herdenimmunisierung. Auch eine postvirale Massenimmunisierung wäre höchst heilsam – etwa gegen die Mär vom ungebremsten Schneller und Höher, Weiter und Mehr, Ständig und Überall. Gegen das überstrapazierte Idyll des Selbstverständlichen, Normalen und allzeit Machbaren. Gegen orakelnde Futurologen oder übersichere Alphatiere, die bar jeden Selbstzweifels einer nach Sicherheit lechzenden Herde alles verkaufen, nur nichts „gebildet Hoffnungsvolles“.

Was hingegen umso mehr nottut, ist (Selbst-)Vergewisserung. Eine, die v.a. Klarheit in Bezug auf die sozialethische Frage schlechthin verschaffen kann: Wollen wir es (weiter) so, wie wir es uns (bisher) eingerichtet haben? Wenn nein: Was müsste anders sein und getan werden – für ein „gutes (postvirales) Leben“? Kollektiv wie individuell. Damit auch Covid2Go nicht weitergeht, sondern fort.

Krisen wie Corona & Co brauchen keine blauäugigen Optimisten, auch keine Pessimisten in Schockstarre, sondern Possibilisten mit klugem Möglichkeitssinn und mit Courage. Dabei ist Mut vor allem eine Tugend des Herzens. Herz heißt ja lat. cor – deshalb bedeutet Courage: Beherztheit. Eine „gebildete Hoffnung“ ist auch eine beherzte. Eine, die uns die Augen öffnet, wenn Geschäfte geschlossen haben. Und eine, die sie uns nicht wieder verschließt, wenn alle Geschäftstüren wieder wie gewohnt weit offen sind.