Achtsamkeit reloaded

Zeit
11.12.2019

„Wenn du es eilig hast, gehe langsam.“ Uralte, paradoxe Redewendungen wie diese scheinen in der eiligen Gegenwart angekommen. Oder doch nicht? Jedenfalls ist „Achtsamkeit“ zu einem medialen Schlüsselbegriff in der Tempo-Wirklichkeit geworden. „Mindfulness“ schaffte es sogar auf das Cover des honorigen Time Magazine. Eine Spurensuche und kritische Betrachtung.  

Achtsamkeit (engl. mindfulness) hat eine sehr lange Tradition, jedenfalls in fernöstlichen Ländern. Ihre Wurzeln liegen vor allem in der buddhistischen Lehre und Meditationspraxis. Dort gehört das Einüben in „Momente passiver Geistesgegenwart“ zum selbstverständlichen Ritual. In ihm wird auch eine alte japanischen Lebensweisheit lebendig: „Wenn du es eilig hast, mache einen Umweg.“

Im rationalen europäischen Kontext hatten derlei unorthodoxe Zugänge lange wenig Platz. Heute hingegen mutieren sie zuweilen inflationär zum Strategie-Inventar einer gehetzten Gesellschaft. Dabei kommt mitunter der Verdacht auf, dass das gewohnt profane Nutzen-Kalkül durchschlägt: „Was bringt´s?“

Ein neuer Optimismus – oder McKinsey reloaded?

Zukunftsforscher wie Matthias Horx sehen die Sache optimistisch. So würden bereits in vielen großen Unternehmen Achtsamkeits-Trainer gar „die McKinsey-Horden“ verdrängen; abgesehen von hippen Mindful-Apps und -Magazinen (Happinezz, Flow etc.) oder hochpreisigen Praxiskursen wie „Achtsamkeit für Manager“. So seine Befunde im Zukunftsreport von 2016.

Nun, das scheint doch etwas überzeichnet. Denn harte Rechner werden sich wohl kaum so mir nichts, dir nichts von sog. weichen Trends fortspülen lassen. Dem zum Trotz meldet er eine große deutsche Tageszeitung: „Wenn selbst Mercedes seinen Mitarbeitern Mail-Zwangspausen und digitalen Urlaubs-Absentismus verordnet, dann ist das Thema Achtsamkeit in der Mitte der Wirtschaft angekommen.“

Oder lässt sich mit weicher Achtsamkeit nicht doch wieder hart kalkulieren? Fortsetzung Zitat oben: „Der Pharmakonzern Genentech startete unlängst ein ehrgeiziges Mindfulness-Programm für seine Mitarbeiter. Intel und SAP erhöhten mit einem ähnlichen Programm die seelische Zufriedenheit ihrer Mitarbeiter. Bei diesen Programmen geht es nicht nur um Yoga oder Rückengymnastik. Es geht um die kognitive Selbst-Wirksamkeit.“

Klingt per se vernünftig, beinahe naiv-gutmenschlich. Ein neuer Altruismus? Oder doch eine instrumentalisierte Mindfulness-Variante? McKinsey reloaded durch die (un-)achtsame Hintertür?

Achtsamkeit als neue Selbstwirksamkeit

„Achtsamkeit“ läuft Gefahr, etwa nebst „Nachhaltigkeit“ und „Klimawandel“ zum beliebigen Nebelwort zu werden. Achtsamkeit hat jahrtausendealte Wurzeln in asiatischer Spiritualität bzw. Meditationspraxis. Gleichzeit ist sie mitunter im Heute als profane, harte Handlungspraxis gelandet. Eine, von der man einen unmittelbar verwertbaren Zweck einfordert. Hier reicht wohl nicht der Platz, um die diffuse Vielfalt an Zugängen und Absichten zu diskutieren.

Aber die Horx´sche Ansicht, Achtsamkeit sei ohne Selbstwirksamkeit nicht zu verstehen, klingt plausibel. Oder wie er es ausdrückt: „Achtsamkeit schaut nach innen, ohne das Außen zu vernachlässigen.“ Dieser Zugang mag doch wieder inspirieren: um in einer überfüllten und überreizten Außenwelt die eigene Innenwelt wieder neu zu ordnen, um sich zu besinnen und sich seiner selbst zu vergewissern. Vergewissern hat auch mit unserem Gewissen zu tun, das Immanuel Kant als „inneren Gerichtshof“ bezeichnete. Eine vortreffliche Metapher.

D.h. hier sind wir auf uns selbst zurückgeworfen, um im Inneren gewissenhaft zu (über-)prüfen, zu neuen Einsichten zu gelangen, unsere Ängste und Erwartungen zu reflektieren, aus dem Scheitern zu lernen, zur Ruhe zu kommen. Oder um ungewohnte Fragen zu beantworten, wie etwa:

WER BIST DU?

(Wenn keiner zusieht!)

All das durchaus auch mit dem Fokus, sich im Außen stimmig und selbstwirksam zu erleben. Ohne in eine neue Hyper-Betriebsamkeit zu verfallen. Sondern sich etwa zu entkoppeln vom unaufhörlichen Müssen-Müssen. Hin zum Können-Können. Oder zum Seinlassen-Können. Zum Enthetzen.

Denn nicht die Zeit macht uns fertig. Sondern das Tempo. Aber Achtung! Ein – im besten Sinne des Wortes – achtsamer Umgang könnte zeitheilsam sein und sinnvoll entschleunigen. Aha-Effekte nicht ausgeschlossen. Ganz im Sinne einer alten hiesigen Erkenntnis, die ebenso aus Asien stammen könnte: „Wer nie vom Weg abkommt, bleibt auf der Strecke.“

PS: Mehr über die Pflege von Achtsamkeit in der Praxis, inkl. Übungen, ist nachzulesen im Buch Ach du liebe Zeit (S. 139ff.).