Der Preis des Musterschülers
Während Europa beim Klimaschutz immer ehrgeiziger wird, locken Länder wie die USA mit billigen Energiepreisen Industrie und Wirtschaft an. Geht die Energiewende in Europa am Ende zulasten der Unternehmer?

Es klingt bedrohlich: Nicht nur die Wachstumserwartungen wurden kürzlich wieder he-runtergeschraubt, auch der internationale Wettbewerb gewinnt an Fahrt und setzt Unternehmen in Europa unter Druck. So ist und bleibt nicht nur Asien für die Wirtschaft verlockend, jetzt machen sich auch die USA wieder für Unternehmen, insbesondere für Industriebetriebe, attraktiv. Neben den geringeren Arbeitskosten, den günstigeren Grundstückspreisen, den niedrigeren Steuern und den schwächeren Gewerkschaften sind für immer mehr Unternehmen vor allem die niedrigen Energiekosten ein Grund, ihre Standortpolitik zu überdenken. Kein Wunder: In den USA liegen die Gaspreise derzeit bei rund einem Drittel der Preise in Europa, Strom kostet um ein Drittel bis um die Hälfte weniger – und das, obwohl der Strompreis in den vergangenen Jahren in unseren Breiten gesunken ist.
Voestalpine-Chef Wolfgang Eder weist in letzter Zeit auffallend oft darauf hin, dass die USA aus Unternehmersicht wesentlich reizvoller sind, wobei die Energiepreise für ihn eines von vielen Argumenten sind. Derzeit investiert der Stahlproduzent 550 Millionen Euro in den Bau einer Direktreduktionsanlage in Texas. Ein Sinnbild? „Die Gas- und Strompreise sind das eigentliche Problem des EU-Standorts“, sagt auch Erich Frommwald, Geschäftsführer der mittelständischen Kirchdorfer Zementwerke.
Branchenspezifisch
Eine mögliche Lösung für das Problem ist die Eigenversorgung mit Energie. Immer mehr Unternehmen investieren in eigene Fotovoltaikanlagen oder Biomassekraftwerke. Christian Ammer, Unternehmenssprecher der Wien Energie, bestätigt: „Die Energiewelt wird zunehmend autonomer und dezentraler.“ Doch nicht allen ist es möglich, Selbstversorger zu werden – manche Branchen sind dafür zu energieintensiv. So kann es zum Beispiel für ein Sägewerk sinnvoll sein, eine Biomasseanlage zu betreiben – für ein Zementwerk oder gar ein Stahlwerk ist es allerdings illusorisch, mit selbsterzeugter Energie auszukommen. Die Devise heißt: Energie sparen. Wien-Energie-Sprecher Ammer: „Ein wesentlicher Teil dabei ist das Thema Energieeffizienz. Hier gilt: Jede nicht verbrauchte Kilowattstunde ist die umweltfreundlichste und günstigste.“
Auch die Tatsache, dass die EU-Kommission die Klimaziele voraussichtlich hinaufschrauben wird, sorgt für Beunruhigung in manchen Unternehmen. Schließlich sind Energieeffizienzmaßnahmen selten eine günstige Angelegenheit. Unternehmen, die zu viel CO2 produzieren, sind durch den Emissionshandel gezwungen, Schadstoffzertifikate zuzukaufen. Christoph Leitl, Präsident der Wirtschaftskammer Österreich, kritisiert, dass derzeit noch nicht einmal klar sei, ob die 2020-Klimaziele – nämlich die Reduktion der CO2-Emissionen um 20 Prozent gegenüber 1990 – erreicht werden. Daher hält er eine Erhöhung auf 40 Prozent bis 2030, was derzeit diskutiert wird, für schlecht.
Weltweite Verantwortung
Viele Unternehmer ärgert zunehmend, dass sich Europa als eine Art Musterschüler in Sachen Klimaschutz hervortut, dabei aber nur für rund zehn Prozent des weltweiten CO2-Ausstoßes verantwortlich ist. Zementwerke-Chef Frommwald sagt: „Nur 15 bis 20 Prozent der Länder nehmen das Thema Energie ernst. Ohne globalen Klimavertrag können wir nicht erfolgreich sein.“ Sein Unternehmen tätigte laut eigenen Angaben zwischen 2000 und 2015 Investitionen von insgesamt 47 Millionen Euro – die Hälfte davon sind Umweltinvestitionen. So produzieren die Werke heute etwa keinen Staub mehr. Er sieht aber kaum kein weiteres Potenzial: Gerade einmal zwei bis sechs Prozent Energie eingespart könnten werden – und das nur, wenn alle Zementwerke abgerissen und auf dem neuesten Stand der Technik wieder aufgebaut würden.
Industrie und produzierendes Gewerbe in Österreich sind laut dem kürzlich veröffentlichten Klimaschutzbericht mit 30,8 Prozent nach wie vor der Hauptverursacher von Treibhausgasemissionen. Doch das größte Verbesserungspotenzial sieht das Bundesumweltamt beim CO2-Produzenten Nummer zwei, dem Verkehr (27,1 Prozent). Dort ist die Abhängigkeit von fossiler Energie besonders groß. Daher will man hier künftig noch mehr Maßnahmen setzen. Als besonders problematisch gilt der gestiegene Treibstoffabsatz.
Wettbewerbsvorteil
Selbst NGOs wie Attac oder Greenpeace gestehen der Wirtschaft zu, dass sie in Sachen Klimaschutz nicht untätig war und schon viel mehr getan hat als Unternehmen in anderen Erdteilen. Dass höhere Klimaschutzziele sinnvoll sind, glaubt auch Edith Hofer, Energieexpertin in der Europäischen Kommission. Davon könne die Wirtschaft sogar profitieren: „Man kann neue Exportmärkte schaffen. Eine 40-prozentige Reduktion der Emissionen würde zu einer Reduktion der Gasimporte führen.“ Und das würde die Unabhängigkeit der EU-Staaten stärken. Es gebe sehr viel Forschung und Entwicklung und viele neue Technologien, um eine bessere Energieeffizienz zu erreichen. Auch Greenpeace-Umweltsprecherin Julia Kerschbaumsteiner betont: „Große Unternehmen können und wollen Vorreiter sein. Konzerne, die effizient produzieren, müssen geschützt und in Europa gehalten werden.“ Darin – davon sind viele überzeugt – liegt Europas großes Plus: Nicht durch Arbeits- und Energiekosten, sondern mit Innovationen kann man sich im weltweiten Wettbewerb hervortun – und Know-how verkaufen. Die Rolle des Musterschülers ist dann vielleicht doch nicht die
schlechteste.