ADHS: Chaos im Kopf
Etwa fünf Prozent aller Erwachsenen leiden unter einer Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung, kurz ADHS. Wie man sie erkennt und wie kluge Vorgesetzte sie bei ihren Mitarbeitenden entschärfen.

Mitarbeitende, die für ihre Wutausbrüche gefürchtet sind. Auszubildende, die sich nur kurz konzentrieren können und bei Prüfungen Nebel im Kopf haben. Die Kolleg*innen, die so schrecklich viel reden, nicht Nein sagen können und im Chaos unerledigter Aufgaben versinken. Sie haben eines gemeinsam: eine hohe Wahrscheinlichkeit für eine Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung, kurz ADHS. Bei Frauen und Mädchen ist das „H“, die Hyperaktivität, oft wegerzogen. ADS ist schwerer zu erkennen.
Um es ausdrücklich zu betonen: Wir reden hier von keiner Krankheit, nur von einer Neurodiversität. Das ADHS-Gehirn produziert zu wenig Dopamin, das Belohnungshormon. Die Wissenschaft streitet noch, ob die Ursache familiäre Veranlagungen sind oder ungünstige Lebensbedingungen: Hektik, Stress, Extremerlebnisse. Oft trifft beides zu.
Wie man ADHS erkennt
Psychologen wie Gabor Maté diagnostizieren ADHS, wenn wenigstens zwei der drei Hauptmerkmale zutreffen. Das erste ist mangelnde Aufmerksamkeitsfähigkeit: Man kann sich nicht konzentrieren, ist zerstreut und leicht ablenkbar, man blendet aus und merkt sich nichts. Nicht mit Absicht: Menschen mit ADHS nehmen zu viele Außenreize auf. Ihr Gehirn schützt sich vor Überforderung, indem es sich abkoppelt – daher die Prüfungsblackouts. Bei echtem Interesse versinkt man auch mal im Hyperfokus.
Das zweite Hauptmerkmal ist unkontrollierbare Impulsivität: Man ist reizbar und launenhaft, das innere Gleichgewicht ist schon bei kleinen äußeren Veränderungen gestört. Wutausbrüche (Straßenverkehr!), Heulanfälle, Impulskäufe oder kalter Rückzug sind die Folge. Egal, wie sehr man sich zusammenreißen will: Die heftigen Reaktionen sind unbewusste Flashbacks in die frühe Kindheit, als man keinen anderen Ausweg kannte als zu explodieren.
Das dritte Hauptmerkmal ist Hyperaktivität oder ihr Gegenteil, Lethargie. Die Hyperaktiven können nicht stillsitzen, sie wippen, schaukeln und trommeln mit den Fingern. Oder sie plappern unaufhörlich, schnell und ohne nachzudenken. Die Lethargischen zaudern endlos und prokrastinieren. Paradoxerweise ist bei beiden der Dopaminmangel die Ursache, für Maté ausgelöst durch einen frühen Bindungsverlust zur wichtigsten Bezugsperson.
Für eine professionelle Diagnose gibt es weitere Hinweise: niedriger Selbstwert (oft gut getarnt), geringe Sozialkompetenz, übersteigerter Gerechtigkeitssinn, Zeitanalphabetismus, schwache räumlich-visuelle Orientierung (stößt sich ständig an), „Gegenwille“ oder eine tiefe Abneigung, etwas wegzuwerfen.
Kurz, knapp, knackig
Genug der Theorie – Wie sich das bei der Arbeit auswirkt und wie kluge Führungskräfte es umschiffen, beschreibt die auf ADHS spezialisierte Wiener Psychologin und Psychotherapeutin Michaela Auer.
Es beginnt beim Recruiting, ein Alptraum für die Befremdung und Zurückweisung gewohnten Betroffenen. Die Jobs bekommen immer die scheinbar perfekten Wunderwuzzis, warum sollten Personalist*innen ausgerechnet auffallend unruhige oder passive Kandidat*innen auswählen? Ganz einfach: Indem sie sich auf deren Stärken fokussieren und auf die Passung zu Job und Firma schauen. Sinngemäß: Niemand braucht lauter Einser im Zeugnis, wenn der Job nur Rechnen verlangt. Oder: Warum Bewerber*innen routinemäßig unter Druck setzen (um vermeintlich ihre Stressresistenz abzutesten) statt ihnen Ruhe und Sicherheit zu geben? Genauso kitzelt man das Beste aus ADHSler*innen. Dann können sie ihre Versagensängste ablegen.
„Beziehung fördert Aufmerksamkeit, Angst schwächt sie.“ Michaela Auer
Psychologische Sicherheit ist der Knackpunkt in der Führung von Menschen mit ADHS (eigentlich: nicht nur von diesen). Zu wissen, man ist akzeptiert, so wie man ist, nimmt die Last von den Schultern und die Blockade vom Gehirn.
Beim Onboarding helfen Einstiegsinfos, die das Wichtigste schön übersichtlich zusammenfassen (Struktur!). Großraum- und New-World-of-Work-Bürolandschaften mögen ADHSler*innen gar nicht. Tipp: Kopfhörer fördern die Konzentration. In Eins-zu-Eins-Umgebungen kann man um Hilfe bitten, ohne das Gesicht zu verlieren (psychologische Sicherheit!). Vor anderen bloßgestellt zu werden beamt zurück in alte Erinnerungen an Misserfolge, Demütigungen und Bloßstellungen. Aus dieser Zeit kommen die unangemessen heftigen Reaktionen, je nach Typ Wut oder Verzweiflung: „Ich bemühe mich doch so sehr und die anderen sehen es einfach nicht.“ ADHSler*innen strengen sich tatsächlich übermenschlich an, doch Konzentrationsschwäche und Gedankenstürme vermasselt den Erfolg. Dazu kommt der „Zeitanalphabetismus“. Viele kommen zu spät, egal wie viele Wecker sie sich stellen. Sie leben in der Gegenwart und tun sich schwer mit dem Voraus- und Zurückdenken. Das erklärt ihre Wutanfälle: Jetzt ärgern sie sich, später schämen sie sich dafür.
Zauberwort Struktur
Mehr als alle anderen brauchen ADHSler*innen Hilfe beim Strukturieren ihrer Arbeit. Führungskräfte und wohlmeinende Kolleg*innen können das auffangen.
„Sie haben Schwierigkeiten mit allen exekutiven Funktionen, also Planen, Organisieren, Zeiteinteilen. Auszubildende merken das oft erst, wenn das Elternhaus wegfällt. Im Lockdown haben viele gemerkt, wenn ihnen der Chef nicht über die Schulter schaut, fangen sie erst gar nicht an.“ Michaela Auer
Was uns zum Thema Anweisungen führt. Die sollten, „kurz, knapp und knackig“ sein, rät Auer. Jeder Wortschwall überfordert die Aufmerksamkeit. „Klipp und klar: Ich brauche das bis heute Mittag.“ Checklisten helfen doppelt: Man muss sich die Tasks nicht merken und holt sich einen Dopaminschub, wenn man sie abhakt. Führungskräfte wundern sich oft über ausgeprägten „Gegenwillen“, den reflexartigen Widerstand gegen selbst sanfte Autorität. Der betrifft nicht nur Teenager: Alle ADHSler*innen erleben Fremdbestimmung stärker als sie ist und opponieren heftig. Hintergrund ist nicht, wie man meinen könnte, ein besonders starker Wille, im Gegenteil. Was auch immer in der Kindheit passierte, sie konnten kein Gefühl für den eigenen Selbstwert entwickeln. Sie erleben andere als übermächtige, kontrollierend-einschränkende Gegner*innen. Die Lösung ist einmal mehr psychologische Sicherheit: Wer vertraut, muss nicht rebellieren.
Bewährt haben sich Reviews in kurzen Abständen. Sie zeigen, wo man steht und – Dopaminkick – wie gut man sich entwickelt. Zum Feedback: „Mit etwas Gutem beginnen und einen Entwicklungswunsch anschließen“, sagt Auer. „Etwa: Super, du warst heute pünktlich. Wie schaffen wir es, dass du das auch nächste Woche bist?“ ADHS-Gehirne brauchen unmittelbares Lob und eine Karotte vor der Nase.
Zuletzt eine Bitte: Ihr Dopaminmangel macht Menschen mit ADHS anfällig für Süchte aller Art, ob Koffein, Alkohol, Nikotin, exzessives Essen, Kaufrausch, Sex, Glücksspiel, gefährliche Sportarten. Workoholics jagen dem Erfolg nach, Social-Media-Addicts dem nächsten Clip. Für Führungskräfte heißt das doppelt auf ihre Schutzbefohlenen aufzupassen.