Zwischen Himmel und Hölle

Zukunft
03.09.2019

 
Dinge zu besitzen ist nicht mehr cool, die Wirtschaft wird glokal sowie ökologisch und das Handwerk feiert ein Comeback: Ein Blick in die Zukunft mit den Trendforschern Matthias und Tristan Horx.

INTERVIEW STEPHAN STRZYZOWSKI

Um den Erfolg einer Firma zu sichern, müssen zeitgerecht die Weichen in Richtung Zukunft gestellt werden. Welche großen Trends sollten Unternehmen gerade beobachten?
Tristan Horx (T):
Ich würde mich momentan stark auf die neoökologische Entwicklung konzentrieren. Unternehmen müssen heute nachhaltig agieren, damit ihnen ihre Kunden nicht weglaufen. Die jungen Menschen, die sich bei den Fridays for Future engagieren, gehören zur Konsumentengruppe, die bald am größten sein wird. Denen sind Ökologie und Nachhaltigkeit wichtig. Gleichzeitig werden auch immer mehr Auflagen erlassen, die ökologisch agierenden Unternehmen Vorteile bringen.

Nachhaltigkeit ist ja als Thema gerade fast omnipräsent. Gibt es einen wichtigen Trend, dem insgesamt zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt wird?
Matthias Horx (M):
Besonders wenn man an seine Zukunft im Bereich Export denkt, muss man sehen, dass sich die Welt der Globalisierung rapide verändert. Der Export von komplexeren Maschinen im Austausch gegen Rohstoffe und auch das Verhältnis zu China ändern sich jetzt zugunsten multilateraler, komplexer, verwirrter Beziehungen. Auch Amerika verliert seine bestimmende Rolle. Dabei haben die USA immer die Exportmärkte strukturiert.

Was bedeutet das für Exporteure?
M:
Dass wir in eine vielfältigere Welt mit größeren kulturellen Differenzierungen steuern. Wir nennen das auch Glokalisierung. Das Globale und das Lokale gehen ein neues Verhältnis ein. Man kann nicht mehr den einen Weltmarkt bedienen. Mit China Handel zu treiben ist anders als mit Arabien. Eines der ganz großen Themen wird Afrika, wo in den nächsten 20 bis 30 Jahren enorme Zuwächse verzeichnet werden. Noch stehen in Afrika alle Wege offen. Wer sie besetzen kann, hat eine langfristige Hebelwirkung.

Die Leute stehen nicht mehr so auf Dinge. Tristan Horx

Afrika, China, USA, Europa: Das sind Regionen in sehr unterschiedlichen Entwicklungsstadien. Ist anzunehmen, dass sich die Unterschiede in den kommenden Jahren rascher ausgleichen werden?
M:
Teilweise wird sich deren Bedeutung sogar umkehren. Die Chinesen werden in manchen Bereichen die Technologieführerschaft übernehmen. Die alte Idee, dass wir die überlegenen Produkte haben, sie ins Ausland exportieren und damit Geld verdienen, ist ein Auslaufmodell. Die technologischen Vorsprünge kann man zeitweise noch durch viel Detailarbeit halten. Der berühmte Gabelstapler oder die Fräse, die den chinesischen Billigprodukten überlegen sind, wird es noch eine Weile geben, aber nicht mehr sehr lange. Und dann geht es um ganz andere Fragen.

Und zwar?
M:
Um Vernetzung und um Joint Ventures. China investiert extrem stark in Europa. Volvo ist etwa in chinesischer Hand und bereits Technologieführer in der E-Mobilität. Daran sieht man, dass sich die gewohnten Verhältnisse umkehren. Billiglohn ist vorbei. Ein chinesischer Arbeiter kostet auch schon fast fünf Dollar pro Stunde. Damit lohnt sich die Globalisierung des alten Typs nicht mehr. Das ist auch der Grund, warum sich viele KMU wieder aus China zurückziehen. In Afrika haben wir dagegen boomende, sehr offene Märkte. Wer durch Addis Abeba geht, wird staunen. Zehn Prozent Wachstum und niedrige Geburtenraten. Und absolut pünktlich fahrende Straßenbahnen.

Ähnlich wie die Regionen verändert sich auch die Gesellschaft: Sie wird älter, jünger, weiblicher, diverser, individueller. Werden Unternehmen in Zukunft noch klassische Kundengruppen selektieren und ansprechen können?
T:
Die junge Generation lässt sich nicht mehr in Kundengruppen und Kategorien einordnen. Auch weil sie sofort merken, wenn sie als Kunden in Schubladen gesteckt werden. Somit muss man sehr differenzierte Produkte für verschiedene Menschen konzipieren. Für die Unternehmer bedeutet diese Entwicklung, dass sie ihre Kunden nur noch individualisiert und differenziert betrachten können. Das ist für Unternehmen, die stark in Kundengruppen gedacht haben, schwierig.
M: Wir sehen heute 50-Jährige, die aufbrechen, und 70-Jährige, die immer noch gerne im Berufsleben stehen. Was früher Alterszielgruppen waren, löst sich zunehmend in Lebensstilkonzepte auf. Diese Entwicklungen brechen die Starrheit der gesellschaftlichen Systeme auf, führen aber auch die ewigen Knappheitsvermutungen in der Wirtschaft ad absurdum. Heute machen sich ja alle Sorgen, dass der ökonomische Aufschwung schon so lange dauert, und meinen, es müsste doch schon längst eine Krise geben. Aber vielleicht gibt es die klassischen Wirtschaftskrisen nicht mehr, weil wir in differenzierten und lebendigen Systemen leben, die sehr viel resilienter sind.

Es gibt wunderbare Möglichkeiten für ein Comeback des Handwerks. Matthias Horx

Dieser Umstand müsste uns ja positiv stimmen. Was man spürt, ist aber viel Verunsicherung und Orientierungslosigkeit. Woran liegt das?
M:
Es liegt zum Teil an der Tatsache, dass wir jetzt seit mehr als einem halben Jahrhundert im Wohlstand leben und sich vieles nicht mehr steigern lässt. Und zum anderen Teil an dem, was wir Hypermedialität nennen. Also einem medialen System, das ganz stark mit Hysterien, Katastrophenvermutungen, mit Übertreibungen und mit Angst arbeitet. Es wird jede Woche ein neuer Weltuntergang angestimmt. Das zerrüttet die Nerven. T: Man könnte das auch Aufmerksamkeitsterrorismus nennen.

Ebenfalls zumindest teilweise recht hysterisch diskutiert wird die Digitalisierung. Woran werden die Menschen in einer immer digitaleren Welt ihre Identität knüpfen, wie werden sie ihre Persönlichkeit zum Ausdruck bringen?
T:
Was man stark merkt, ist, dass der Besitz von Statusobjekten ziemlich uncool geworden ist. In den meisten Jugendgruppen versucht man jetzt eher Erfahrung und Momente zu konsumieren. Die Leute stehen nicht mehr so auf Dinge. Das macht sich auch in der digitalen Kultur auf Instagram und Co. bemerkbar, weil man Erlebnisse gut auf Fotos festhalten kann. Das Haptische wird dagegen weniger interessant. Auch Fast Fashion funktioniert nicht mehr. Auf Wegwerfhemden hat niemand mehr Lust. Wenn man konsumiert, dann sinnvoll und nachhaltig. Das überschneidet sich auch mit den neoökologischen Interessen dieser Generation. M: Es geht mehr um Nutzung statt Besitz. Selbst Ikea nimmt mittlerweile alte Möbel zurück. Wir tragen in der Familie nur Leasingjeans, die wir zurückschicken und die recycelt werden. Luxus verliert seine Anziehungskraft: Wenn jeder Chinese mit Gucci herumläuft, bieten die Produkte kein Distinktionsmerkmal mehr.

Ist das ein Trend, der auch im B2B-Bereich spürbar wird?
M:
Definitiv. Auch hier ändern sich die Modelle und der Besitz tritt in den Hintergrund. Leuchtmittelfirmen werden etwa schon bald Lichtnutzung anstatt Glühbirnen verkaufen. Die Betriebe haben keine Lust, alle zwei Jahre eine neue Ökolampe reinzuschrauben und sich mit der Entsorgung zu befassen.

Entstehen aus diesem Bedürfnis Nischen und Chancen, die eine klein strukturierte Wirtschaft wie die heimische besonders gut nutzen kann?
T:
Je kleiner und je heimischer, umso cooler. Auch weil dann individuellere Lösungen möglich sind. Und in Zeiten, in denen alle unbedingt individuell sein wollen, wird es schwieriger, sich abzuheben. Das absolute Unikatstück, das vom lokalen Schuster angefertigt wurde, ist um Welten cooler als der Markengürtel aus der Massenproduktion. Darin steckt eine große Chance für die Unternehmen.
M: Es gibt wunderbare Möglichkeiten für ein Comeback des Handwerks. In allen Bereichen. Sowohl beim Unikat, aber auch digitalisiert. Denken Sie an die Baufirma Rhomberg aus Vorarlberg. Die sind in der Lage, Digitalisierung und Holzbau zu individualisierten Häusern zu kombinieren. Und damit den Preis für individualisiertes Bauen zu senken.

Wie lange dauert es, bis sich große Trends wie der Klimawandel im breiten Konsumverhalten widerspiegeln?
M:
Eine komplette Revolution dauert immer 100 Jahre. Man denke an die industrielle Revolution: Die ersten industriellen Webstühle wurden 1800 gebaut. Bis die Lebenswelt der Menschen vollständig industrialisiert wurde, hat es noch bis tief ins 20. Jahrhundert gedauert. Kaiser Franz Joseph war fast ein ganzes Jahrhundert eher skeptisch gegen die Industrialisierung. Das ökologische Paradigma ist das nächste große Weltparadigma. In den nächsten 20 Jahren wird die Dekarbonisierung gewaltig viel verändern.

Und wo stehen wir aktuell? M: Jetzt haben sich kritische Massen gebildet. Große Teile der Mittelschicht denken und leben heute grün, vielleicht nicht vollständig, aber die grünen Ideen drängen zum Durchbruch. Die Unternehmen beginnen jetzt, im großen Stil umzudenken.

Wenn der Blick in die Zukunft geht, zeigen sich oft recht extreme Perspektiven. Woran liegt es, dass wir so polar zwischen Horrorszenarien und Heilsversprechen pendeln?
M:
So sind Menschen nun mal, und das mediale System verstärkt immer die Extreme. Es ist ja auch so, dass wir in Zeiten gebrochener Versprechen und breiter Enttäuschungen leben. Bis zur Bankenkrise dachte man ja: Alles geht immer weiter und weiter, alle werden reich. Die digitale Revolution hat uns mitnichten nur Segen gebracht. Sie erscheint auch kaum noch in den Produktivitätsbilanzen. Ihre große Zeit kommt erst mit den wirklichen Problemen, die Unternehmen zu lösen haben.
Ich halte etwa die Künstliche Intelligenz für überschätzt. Digitale Expertensysteme lassen sich mehr und mehr zur Unterstützung von Routinen einsetzen, aber die Lösung aller Probleme, wie das oft versprochen wird, werden sie nicht bringen, eine KI kann zum Beispiel den Verkehr in einer Großstadt ein bisschen optimieren, aber die Entscheidung, ob man mehr Fahrräder nutzt und das Auto zurückdrängt, um eine lebenswerte Umwelt zu schaffen, werden sie uns nicht abnehmen.

Laut einer Studie der Bertelsmann Stiftung sehen zwei Drittel der EU-Bürger die Gegenwart kritischer als die Vergangenheit. Woran liegt das?
T:
In der Vergangenheit gibt’s keine Ambivalenz. Da ist alles klar. Aber wie die Zukunft aussieht, ist ungewiss. Deswegen tendieren die Leute auch zu den extremen Szenarien. Die Menschen wollen etwas Fixiertes. Auch in allen religiösen Formen gibt es immer Himmel oder Hölle. Darauf sind wir getrimmt. Es gibt aber mittlerweile einen großen Trend hin zur nicht sakralen Religiosität. Mediation, Achtsamkeit – das kommt ganz groß. Wir müssen also als Gesellschaft lernen, von Erlösung und Untergang wegzugehen.

Auf der anderen Seite sind es oft große Visionen, extreme Annäherungen, die zu großen Erfolgen führen. Man denke an die Mondlandung. Vielleicht braucht es ja auch beim Klimawandel Horrorszenarien, damit einmal etwas passiert?
M:
Vorsicht! Es hat ja auch bei der Mondlandung nicht geklappt, die wirklich großen Probleme zu lösen. Das war eine gigantische Illusion. Da standen militärische Gründe dahinter und der Vietnamkrieg war das, was die Amerikaner am Ende doch mehr beschäftigte. Für unsere komplexe Zukunft brauchen wir auch komplexeres Denken, vielleicht weniger Heroismus, dazu mehr vernetztes Denken. Ich glaube, das ist im Grunde auf einem ganz guten Weg. Aus Krisen ergeben sich ja auch immer wieder erstaunliche Wendungen.

Haben Sie ein Beispiel?
M:
Die Trends gehen ja nicht nur in eine schlechte Richtung. Wir haben auf einmal eine ziemlich komplex denkende Frau als europäische Kommissionspräsidentin. In vielen Ländern ist der Populismus schon wieder an seine Grenzen gestoßen. Es gibt eine neue ökologische Jugendbewegung, die einen erheblichen Impact hat. Ich bin ganz optimistisch, dass Menschen trotz allen Lärms und Geschrei dann doch wieder Lösungen für die Zukunft finden werden. So war das immer, sonst wären wir nicht hier.

Sie glauben also, dass wir den Klimawandel eindämmen und beherrschen können?
M:
Es wird Klimawandel geben, aber es wird nicht der Weltuntergang sein. Im 18. Jahrhundert gab es schreckliche Abkühlungen durch Vulkanausbrüche, da sind ganze Sommer ausgefallen, es gab Hungersnöte, aber daraus entstanden auch Innovationen bei der Vorratshaltung und der Landwirtschaftstechnik. Menschen funktionieren unter Bedrohung bisweilen ganz kreativ. Dass plötzlich ein junges Mädchen mit Namen Greta Thunberg auftaucht und auf allen großen internationalen Konferenzen spricht, ist ein Anzeichen, wie schnell sich die Dinge wieder drehen können. Wir müssen Negatives positiv umcodieren. Das ist Zukunft! Zukunft beginnt im Denken, das ist ganz wichtig.

Hätten Sie sich übrigens gedacht, dass Ihr Sohn auch Zukunftsforscher werden würde?
M:
Nein, ich hätte nie geglaubt, dass Tristan auf die Idee kommen würde, den Beruf seines Vaters anzunehmen. Weil ich aus meiner Biografie davon ausgegangen bin, dass Söhne immer rebellieren müssen. Ich dachte, er wird Beamter oder General.
T: Dabei habe ich es wirklich probiert. (lacht) Heavy Metal gespielt, aber die Rebellion hat nicht funktioniert. Da dachte ich mir: Join them.