Rainer Münz

Mangelware Arbeitskraft

Fachkräftemangel
10.10.2022

 
Für den Bevölkerungswissenschaftler Rainer Münz steht fest, dass sich der Arbeitskräftemangel noch weiter verschärfen wird. Worin die Ursachen liegen, unter welchen Voraussetzungen Migration zur Entlastung beitragen kann und was Unternehmen selbst tun können: ein Aufruf, alle Potenziale voll auszuschöpfen.
Rainer Münz

Arbeitskräftemangel ist ein Thema, das aktuell bei vielen Unternehmen richtig virulent wird. Neu ist das Problem allerdings nicht. Warum spitzt es sich jetzt so stark zu?

Es gibt mehrere Gründe. Ganz wesentlich ist die demografische Entwicklung: In Österreich sterben mehr Menschen, als zur Welt kommen. Zugleich gehen mehr Erwerbstätige in Pension, als Menschen aus dem heimischen Bildungssystem auf den Arbeitsmarkt kommen. Dadurch entsteht eine Lücke. Zugleich sind Wirtschaft und Arbeitsmarkt stark gewachsen. Wir haben rund 400.000 Menschen mehr in Beschäftigung als vor zehn Jahren. Auch nach dem Covid-bedingten Einbruch 2020/21 ist die Zahl der Beschäftigungsverhältnisse rasch wieder gestiegen. Der Arbeitskräftemangel behindert klarerweise das Wachstum. Die Unternehmen haben Probleme, freie Stellen zu besetzen und potenzielle Nachfrage zu bedienen. Kurzfristig verringert dies das Angebot und treibt die Preise. Mittelfristige Folge ist, dass Teile der Produktion automatisiert, ins Ausland verlagert oder Dienstleistungen eingestellt werden. 

Welche Aspekte tragen noch zu der Zuspitzung bei?

Wir schöpfen das theoretisch verfügbare inländische Arbeitskräftepotenzial nicht voll aus. Aufgrund fehlender Ganztagsschulen, ganztags geöffneter Kindergärten, Kinderkrippen und anderer Betreuungsmöglichkeiten für Kinder arbeitet rund die Hälfte der berufstätigen Frauen nur in Teilzeit. Wir nützen auch das Potenzial der Älteren nicht. Österreicherinnen und Österreicher scheiden in sehr großer Zahl deutlich vor Erreichen des gesetzlichen Pensionsalters aus dem Beruf. Trotz Arbeitskräftemangel gibt es auch für Personen, die in ihrem gesamten Berufsleben keine körperlich schwere Arbeit verrichten mussten, weiterhin öffentlich finanzierte Anreize, vorzeitig in Pension zu gehen. Eine große Zahl an Fachkräften hört daher früher auf zu arbeiten, obwohl die Betriebe sie weiterhin benötigen. Jenseits des 65. Lebensjahres ist in Österreich fast niemand mehr erwerbstätig. 

Aus welchem Grund wird der frühe Arbeitsausstieg gefördert?

Die Erleichterung des Ausstiegs am Ende des Arbeitslebens wurde einerseits für Menschen konzipiert, die Nachtschicht- und Schwerarbeit leisten. Zugleich wurde der frühe Ausstieg der Älteren seinerzeit gefördert, um den Babyboomern ab den 1980er-Jahren den Eintritt in den Arbeitsmarkt zu erleichtern. Doch nun nehmen sie selbst diese Möglichkeiten in Anspruch. Das ist angesichts des Fachkräftemangels kontraproduktiv und bei qualifizierten Arbeitskräften, die keine harte, körperliche Arbeit leisten mussten, nicht ganz fair. Denn die nachfolgende Generation ist an Zahl kleiner und sie muss nun die Pensionen der Babyboomer bei steigender Lebenserwartung länger finanzieren. 

Lässt sich dem Problem durch Zuwanderung beikommen?

Im Prinzip ja, aber wir schöpfen schon jetzt das Poten­zial der Menschen mit Migrationshintergrund nicht aus. Zugewanderte aus Drittstaaten von außerhalb der EU sind bei uns seltener erwerbstätig als Einheimische. Viele Zugewanderte aus Drittstaaten, die Arbeit finden, werden unter ihrer eigentlichen Qualifikation beschäftigt. Bei den Kindern von Zugewanderten scheitert ein Teil der Bildungskarrieren schon frühzeitig an mangelnden Deutschkenntnissen. Es gibt eine zu hohe Anzahl an Kindern mit Migrationshintergrund, die das Bildungssystem früh und teils ohne Abschluss verlassen. Dadurch ist ihnen der Weg zu einer höheren Qualifika­tion versperrt. Unsere Zuwanderungspolitik bietet EU-Bürgerinnen einen freien Zugang zum Arbeitsmarkt. Bei Drittstaatenzuwanderung spielen Asyl und Familienzusammenführungen die größte Rolle. Mitgebrachte oder fehlende Qualifikationen spielen dabei als Kriterium bei der Aufnahme oder Nichtaufnahme keine Rolle. Und über die Rot-Weiß-Rot-Karte, mit der gezielt Fachkräfte ins Land geholt werden sollten, kamen bislang nur ganz wenige Qualifizierte nach Österreich: etwa 2.000 pro Jahr. Das soll sich durch die jüngst beschlossene Änderung der Bedingungen ändern.  

Woher könnten qualifizierte Arbeitskräfte kommen und was müsste der Staat ihnen bieten?

Das ist nicht leicht zu beantworten. Einerseits hat Österreich durch seinen EU-Beitritt viele Arbeitskräfte aus Europa gewonnen. Dieser Effekt wurde auch durch die Osterweiterung verstärkt. Viele Bürgerinnen und Bürger der zwischen 2004 und 2013 beigetretenen Länder waren im erwerbsfähigen Alter. Und aufgrund der Lohnunterschiede war Österreich für sie attraktiv. So konnten wir in der Vergangenheit viele Lücken am heimischen Arbeitsmarkt mit Menschen aus Ost- und Südosteuropa schließen. Die EU-Zuwanderung hatte für Wirtschaft und Zugewanderte den Vorteil, dass sie nicht administrativ reguliert ist. Schlecht funktionierende oder überlastete Ausländerbehörden der Bundesländer erschweren den Zugang zum Arbeitsmarkt somit nicht. Die Zuwanderung aus EU-Staaten Ostmittel- und Südosteuropas wird allerdings an ihr Ende kommen, weil dort die Löhne kräftig steigen und die Einwohnerzahlen schrumpfen. Die Zahl jener, die man ansprechen kann, wird also kleiner. Diese Entwicklung macht sich bereits beim Mangel an Pflegekräften aus unserer östlichen Nachbarschaft schmerzlich bemerkbar.

Wenn unser näheres Umfeld kein großes Potenzial mehr bietet: Welche Länder könnten an seine Stelle treten?

In weiter entfernten Regionen gibt es viele Länder, in denen die Bevölkerung jung und immer besser gebildet ist. Dort müssten wir allerdings proaktiv Anstrengungen unternehmen. Denn aus Regionen, zu denen wir keine historischen Beziehungen haben, kommen die Menschen nicht von selbst. Wir müssten also gezielt Arbeitskräfte anwerben und uns deutlicher als Zielland mit Chancen für neu Zugewanderte positionieren. Das ist politisch heikel.

Inwiefern?

In weiten Teilen der Bevölkerung gibt es die Erwartung, dass irreguläre Migration reduziert wird und daher Signale ausgesandt werden sollten, dass Zuwanderung nicht unbedingt gewünscht ist. Es ist nicht einfach, sich einerseits als attraktives, weltoffenes Land für ausländische Fachkräfte zu positionieren, das ihnen einen roten Teppich ausrollt, und gleichzeitig eine restriktive Migrationspolitik zu verfolgen. Die Ankündigung des österreichischen Innenministers, er wolle entschieden gegen Wirtschaftsmigration vorgehen, verdeutlicht dieses Problem.

Wir schöpfen schon jetzt das Poten­zial der Menschen mit Migrationshintergrund nicht aus.

Rainer Münz

Woher könnten Arbeitskräfte kommen, die den Bedarf der Unternehmen decken?

Zum Beispiel aus Indien, Pakistan, Indonesien oder Ägypten, eventuell auch aus Lateinamerika. Viele Inder und Pakistanis können gut Englisch und haben bei der Auswanderung entsprechende Präferenzen für englischsprachige Länder. Bei einer Niederlassung in Österreich verlangen wir, dass sie schnell Deutsch lernen, weil sie sonst keine Chance auf einen Daueraufenthalt haben. Dabei stehen sie oft in einem Arbeitszusammenhang, in dem Deutsch keine große Rolle spielt. 

Sie sind Migrationsexperte: Woran liegt es, dass dieses Thema politisch immer so schnell von der Sachebene auf die emotionale Schiene gerät?

Wir erleben 2022 sowohl einen großen Zustrom von Geflüchteten aus der Ukraine und einen starken Anstieg der Asylanträge, was in Teilen der Bevölkerung sehr skeptisch gesehen und als Kontrollverlust interpretiert wird. Die Politik reagiert darauf, weil es den Parteien immer auch um Wählerinnen und Wähler und um Mehrheiten geht. Bei den Asylsuchenden sind manche qualifiziert, viele allerdings unqualifiziert, und wir können nicht nach Qualifikation entscheiden, wer Asyl bekommt. Dazu kommt ein ganzer Rucksack an ungelösten Integrationsproblemen. Wir haben in den 1960er- und 70er-Jahren vor allem unqualifizierte Personen angeworben und nicht in ihre Qualifizierung und Integration investiert. Man dachte, diese Arbeitsmigrantinnen und Migranten würden nicht hierbleiben. Doch viele blieben, holten ihre Familienangehörigen nach, bekamen Kinder in Österreich. Darauf war und ist unser Schulsystem schlecht vorbereitet, denn es ist nicht darauf ausgelegt, Ungleichheiten der Herkunft auszugleichen. Ob Kinder und Jugendliche im Bildungssystem erfolgreich sind, hängt erheblich vom Engagement der Eltern ab. Das führt aber dazu, dass sich Ungleichheit der Bildung stark vererbt. Kinder, die vielleicht begabt wären, werden zu früh von weiterführender Bildung abgehalten. Dies gilt insbesondere für Kinder und Jugendliche, die über geringere Deutschkenntnisse verfügen oder deren zugewanderte Eltern ihnen bei der Bewältigung des Lernstoffs und bei der Wahl weiterführender Schulen nicht helfen können. Dadurch wird das Potenzial der Kinder und Jugendlichen mit Migrationshintergrund bei Weitem nicht ausgeschöpft. Diese Mischung verschiedener Versäumnisse macht das Thema besonders komplex. 
Gibt es Qualifikationen, die ganz besonders knapp werden? Man muss sich genauer anschauen, wer mit welchen Qualifikationen in den nächsten Jahren in Pension geht, und vergleichen, ob es entsprechende inländische Ausbildungskapazitäten gibt und wie viele Personen gegenwärtig nachgefragte Berufe erlernen. Es gibt zum Beispiel heute schon einen Mangel an IT-Fachkräften, Lehrpersonal, Pflegekräften. 

Welche Entwicklung erwarten Sie in den kommenden Jahren?

Das Problem wird sich verschärfen. Wir brauchen ein höheres Pensionsalter – vor allem für Qualifizierte. Dafür müssen die Anreize zur Frühpensionierung auslaufen. Zumindest für jene, die körperlich durchaus in der Lage sind, bis zum Alter von 65 Jahren zu arbeiten. Und es muss viel attraktiver werden, auch jenseits der Pensionsgrenze weiterzuarbeiten. Auch die Unternehmen sind gefordert, denn viele Betriebe nutzen Frühpensionierungen, um sich von älteren Beschäftigten zu trennen, statt in ihre Motivation und Qualifikation zu investieren. Auch ganztätige Kinderbetreuung würde sehr viel bringen. Sie müsste allerdings fünf bis sechs Tage die Woche und zwölf Monate im Jahr angeboten werden. Wir brauchen auch Schulen, in denen ganztags gelernt werden kann und die einen Teil des Sommers für Lerncamps nützen. Durch Halbtagsschulen entsteht Druck auf viele Arbeitskräfte, insbesondere auf Mütter, nur halbtags zu arbeiten. Und neun Wochen Sommerferien sorgen für Rückschläge bei lernschwachen Schülerinnen und Schülern, aber auch bei jenen, deren Deutschkenntnisse nicht gefestigt sind.

Gibt es andere Länder, von denen wir uns etwas abschauen können?

Klassische Einwanderungsländer wie die USA, Kanada und Neuseeland haben den Vorteil, dass sie nach 1945 eine andere Struktur der Zuwanderung hatten: mehr Qualifizierte, weniger Unqualifizierte. Der Zuzug von hochqualifizierten Menschen bedeutet auch, dass Familiennachzug und Heiratsmigration in der Regel ebenso wenig Probleme machen wie die Schulkarrieren der Kinder von Zugewanderten. Wir haben auch einen stark regulierten Arbeitsmarkt, in dem der Nachweis von Qualifikation durch formale Abschlüsse und beschränkte Berufszugänge eine große Rolle spielen. Dass Zugewanderte fachlich einen bestimmten Job ausüben könnten, bedeutet daher nicht, dass sie ihn auch bei uns ausüben dürfen. Qualifikationen aus dem Ausland werden vielfach nicht anerkannt. Etliche Zugewanderte arbeiten unterhalb ihres Qualifikationsniveaus. Dadurch haben wir einen Nachteil gegenüber Ländern, die nicht so restriktiv sind.   

Was können Betriebe denn selbst tun?

Wir kommen aus einer Situation auf dem Arbeitsmarkt, wo sich viele Unternehmen aufgrund der hohen Anzahl von Babyboomern ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aussuchen konnten. Auch die rasche und unbürokratische Verfügbarkeit von Arbeitskräften aus anderen EU-Staaten führte dazu, dass die Betriebe auswählen konnten. Nun sehen wir eine Arbeitsmarktsituation, wo sich vor allem qualifizierte Arbeitskräfte aussuchen können, wo sie hingehen und unter welchen Bedingungen sie arbeiten möchten. Darauf müssen sich die Unternehmer einstellen. Es geht darum, ein attraktiver Arbeitgeber zu sein. Das ist mit Kosten verbunden, und es erfordert andere Managementformen.  

Mit welchen Benefits können Unternehmen besonders gut punkten?

Die Möglichkeiten sind breit gefächert: Homeoffice, Vier-Tage-Woche, flexiblere Arbeitszeiten, mehr Urlaub, Bildungskarenzen. Betriebskindergärten und Nachmittagsbetreuung für Schulkinder könnten Berufstätige motivieren, ganztags zu arbeiten. Es geht aber auch darum, sich zeitgerecht als Arbeitgeber und Branche zu positionieren. Firmen können dafür Partnerschaften mit Schulen eingehen. Sie können überbetriebliche Programme zur Begabtenförderung einrichten. Sie können versuchen, begabten Kindern zu helfen, die mit Sprachproblemen kämpfen. 25 Prozent der österreichischen Bevölkerung haben Migrationshintergrund. In den größeren Städten liegt der Anteil an Kindern mit Migrationshintergrund bereits bei 40 bis 50 Prozent. Das hat auch Auswirkungen auf die Arbeitswelt. Diversität ist ein großes Thema, auf das etliche Betriebe noch nicht eingestellt sind. Solange die Auswahlmöglichkeit bestand, mussten sie sich auch nicht anpassen. Jetzt ist das dringend nötig. Gleichstellung war lange ein Thema, bei dem es um Frauenförderung ging. Nun geht es auch um die Gleichstellung von Zugewanderten und um deren gezielte Förderung. Wir brauchen positive Rollenvorbilder für Menschen mit Migrationshintergrund. Und wir benötigen zunehmend deren Potenzial als Arbeits- und Fachkräfte, denn die Zahl der Einheimischen schrumpft.

Zur Person

Der Bevölkerungswissenschaftler und Migrationsexperte Dr. Rainer Münz unterrichtet derzeit an der Central European University in Wien und an der Diplomatischen Akademie in Wien. Von 2015 bis 2019 war er Berater von EU-Kommissions-Präsident J.-C. Juncker. Davor leitete Rainer Münz von 2005 bis 2015 die Forschungsabteilung der Erste Group und war Senior Fellow am Brüsseler Thinktank Bruegel.