Stupsen statt verordnen

Klimawandel
16.03.2020

Mittels Nudging kann die Politik auf Gesetze verzichten und trotzdem gesellschaftliche Ziele erreichen, meint Prof. Erich Kirchler von der Universität Wien. Wie die Methode funktioniert, welche Richtlinien eingehalten werden sollten, und wie wir uns selber anstupsen können, erklärt der Wirtschaftspsychologe im Interview.
Prof. Erich Kirchler, Universität Wien
Prof. Erich Kirchler, Universität Wien

Nudging bedeutet, dass Menschen durch kleine Impulse zu einem bestimmten Verhalten angeregt werden. Zur Bekämpfung des Klimawandels werden massive Verhaltensveränderungen nötig sein. Bekommt die Methode dadurch Aufwind? Jetzt schlägt eindeutig die Stunde des Nudging. Nicht nur wegen des Klimawandels, sondern auch, weil die Erkenntnisse aus den Sozialwissenschaften und der Wirtschaftspsychologie in der Politik angekommen sind. 

Wie kann die Politik Nudging anwenden? Sie kann Nudging in erster Linie dazu nutzen, um auf Gesetze zu verzichten und trotzdem wichtige gesellschaftliche Ziele zu erreichen. Wichtig ist immer, dass die Entscheidungsarchitektur so gestaltet wird, dass Menschen dazu gebracht werden, das zu tun, was für sie selbst und die Gesellschaft gut ist. 

Das klingt nicht, als würde man von mündigen Bürgern ausgehen, die selbst wissen, was gut für sie ist. In komplexen Entscheidungssituationen haben Menschen Schwierigkeiten, Informationen korrekt zu verarbeiten. Viele Entscheidungen werden aufgrund mangelnder Motivation sehr kurzsichtig oder intuitiv getroffen. Systematische Fehler in Entscheidungen wirken sich in der Masse auch stark auf Märkte und die Gesellschaft aus. Die Politik kann Nudging nützen, um Situationen so zu gestalten, dass ein bestimmtes Verhalten begünstigt wird. Das betrifft Fragen der Umwelt, der Energie, der Ernährung, der Gesundheit, aber auch der Steuerehrlichkeit. Nudging kann Nachhaltigkeit in allen möglichen Bereichen fördern.

Lässt man den Menschen dabei wirklich die Wahl, oder verkauft man nur den Zwang besser? Es gibt viel Kritik, die Nudging als Manipulation und als Entmündigung der Bürger bezeichnet. Das ist aus meiner Sicht überzogen, wenn entsprechende Richtlinien eingehalten werden.

Welche zum Beispiel? Nudging muss dem Wohl der ­Genugden und der Gesellschaft dienen. Es geht nicht um Marketing. Nudging muss auch transparent erfolgen, es muss erkannt werden, dass ein bestimmtes Verhalten favorisiert wird, und es muss leicht möglich sein, das Gegenteil zu tun. Wenn man diese Richtlinien ernst nimmt, ist die Freiheit des Einzelnen gegeben. 

Was kann Nudging leisten, was Vorschriften und Gesetze nicht können? Gesetze sind einzuhalten und werden sanktionier. Sie können als Freiheitseinschränkung wahrgenommen werden. Empirische Studien zeigen, dass mit der Einschränkung der Freiheit die Tendenz zum Widerstand steigt, die Freiheitsräume wiederherzustellen. Nudging verbietet nicht, sondern suggeriert ein Verhalten, und wer nicht will, reagiert eben nicht darauf. Nudging basiert auf der Idee, Gesetze nur dann zu erlassen, wenn sie unbedingt notwendig sind. Damit ist Freiheit gegeben und teure Kontrollen fallen weg.  

Haben Sie ein paar Beispiele für wirksame Anstupser? Beispielsweise wurden Tore neben Autobahnen aufgestellt, in die der Abfall geworfen werden soll. Das war eine spielerische Variante, damit der Müll an bestimmten Stellen landet und nicht über die gesamte Autobahnstrecke verstreut. Genauso funktioniert auch die aufgemalte Fliege im Pissoire. Oder denken Sie an Organspenden. In Österreich sind alle Menschen Spender, es sei denn, sie tragen sich in eine Liste der Nicht-Spender ein. Es hat sich auch gezeigt, dass viele Menschen eine Option akzeptieren, wenn bei einem Vertrag oder auf einer Homepage eine Option bereits angehakt ist. Wenn im Arbeitsvertrag eingetragen ist, dass monatlich 25 Euro für eine Pensionsvorsorge eingezahlt werden, akzeptieren das die meisten Arbeitnehmer. Eine Idee war auch, in der Dusche ein Display anzubringen, wo ein Eisbär auf einer Scholle sitzt, die in Abhängigkeit vom Warmwasserverbrauch schmilzt, bis der Bär ins Wasser fällt. So eine spielerische Variante ist ziemlich wirksam, weil wir dazu neigen, kompetitiv mit uns selbst ein Ziel erreichen zu wollen und nur so lange Energie zu verbrauchen, dass der Eisbär nicht ins Wasser fällt.

Worin liegt abgesehen vom Spieltrieb die Motivation, den Impulsen zu folgen? Oft ist es die Zeitersparnis, denn man muss nicht lange überlegen. Man folgt den Anreizen, weil es schwieriger ist, sich die Konsequenzen von Optionen selber zu überlegen und abzuwägen. Man folgt intuitiv dem vorgegebenen Ziel und vermeidet die Anstrengung, sich über das gegenteilige Verhalten Gedanken zu machen.

Welche Rolle spielt, wie andere auf die Reize reagieren? Wir wissen ja zum Beispiel was passiert, sobald eine erste Person bei Rot über die Kreuzung geht. Man kann den Effekt sozialer Normen gut nutzen. Wenn Menschen mitgeteilt wird, was die meisten in einer Situation tun, dann müssen sie einen Widerstand überbrücken, um die gesellschaftliche Norm zu verletzen. 

Welche Bedeutung haben persönliche Werthaltungen und Motive der Menschen? Die Werte des Einzelnen sollten nie überrumpelt werden. Wenn jemand, vielleicht aus religiösen Gründen, nicht für Organspenden ist, muss es leicht sein auszusteigen. Bei Mülltrennung ist dagegen die Gesellschaft wichtiger als der Einzelne. Einem Fabrikanten ist die Umwelt vielleicht egal, dem muss man mit Gesetzen ein bestimmtes Verhalten vorschreiben. Aber auch rund um Gesetze kann man durch soziale Normen nudgen. Wenn im Brief des Finanzamtes steht, dass viele pünktlich und ehrlich zahlen, steigt die Zahl derer, die es auch manchen. 

Was können Unternehmen mit der Methode erreichen? Wenn sie die Gesundheit der Mitarbeiter verbessern wollen, können sie in der Kantine einiges tun. Zum Beispiel zu gesundem Essen anregen. Unternehmen könnten am Aufzug ein Schild anbringen mit dem Spruch: „Der Lift verbrennt keine Kalorien, die Treppe schon.“ Auch Hotels nudgen aus ökologischen Gründen, indem sie ihre Kunden darüber informieren, wie hoch der Ressourcenverbrauch ist, wenn die Handtücher täglich gewaschen werden müssen. Oder positiv: Dass sie für jedes Handtuch, das mehrfach verwendet wird, einen Beitrag spenden. Es gibt viele Möglichkeiten, um Situationen so zu gestalten, dass sie für alle vorteilhaft sind.  

Ein ganz wesentlicher Hebel im ökologischen Bereich ist der Konsum. Denken Sie, dass im Handel Nudging öfter zum Einsatz kommen wird? Hier beobachten wir eine Entwicklung, die eine Welle auslösen könnte. Immer mehr Menschen reduzieren ihren Fleischkonsum und achten auf nachhaltige Lebensmittel. Viele Werte ändern sich aufgrund der Klimadebatte. Die Werbestrategen kennen die Verhaltensgesetze seit Langem, und der Handel weiß auch ganz genau, wie er zum Kauf anregt, beispielsweise auf welcher Regalhöhe sich Produkte am ehesten verkaufen. Die Anwendung der Verhaltenseinsichten im Verkauf ist allerdings nicht mehr Nudging, sondern Werbung und Manipulation, denn die Strategien dienen dem Nudgenden und nicht den Genugden. Ich bin mir aber sicher, dass den Konsumenten die ökologische Dimension ihres Handelns immer öfter vor Augen geführt werden wird. Wenn Konsumenten auf der Energierechnung ein trauriges Smiley sehen und den Hinweis, dass sie mehr als der Durchschnitt verbrauchen, regt das vielleicht zum Sparen an. Um das eigene Verhalten zu regulieren, ist Feedback nicht nur nützlich, sondern notwendig.

Wie auf den Schockbildern, die seit ein paar Jahren die Zigarettenschachteln zieren? Das hat sich am Anfang sicher ausgewirkt. Aber die Leute sind erfinderisch, vor allem dann, wenn sie auf etwas verzichten müssen. Sofort kamen Cover auf den Markt, um die Bilder abzudecken. Wir haben eine Studie durchgeführt und festgestellt, dass es Typen gibt, die sich an dem, was sie erreichen wollen, orientieren. Ihnen stehen Typen gegenüber, die sich an Fehlern orientieren, die sie vermeiden möchten. Mit den Schockbildern erreicht man nur die zweite Gruppe. Man hätte auch analysieren können, was es bewirkt, wenn man positiv nudged. Wenn man etwa sagt: „Nichtraucher haben eine bessere Haut.“ Damit hätte man vielleicht auch die andere Gruppe erreichen können. 

Eine ähnliche Diskussion findet gerade rund um die Frage der Mobilität statt. Hier  gibt es den Ansatz, Autofahren zu erschweren und zu verteuern oder die Öffis zu vergünstigen und auszubauen. Menschen tun grundsätzlich das, was praktisch ist. Wenn es praktischer wird, mit den Öffis zu fahren, werden sie auch mehr Menschen nutzen. Damit Verhaltensregulation funktioniert, müssen einfach gewisse Grundbedingungen erfüllt sein.

Welche? Nudging basiert auf vier Kategorien. 1. Easy: Dinge, die man tun soll, müssen leicht gehen und praktisch sein. Was nicht passieren soll, erschwert werden. 2. Attraktivität: Man lenkt die Aufmerksamkeit dorthin, wo die Leute Informationen aufnehmen sollen; bekanntlich wählen wir Information sehr selektiv aus und nicht alle Information kommt an. 3. Soziale Normen und Erwünschtheit: Wir tun meistens das, was andere auch tun. 4. Timely: Interventionen treten dann in Erscheinung, wenn eine Entscheidung ansteht.

Welche Rolle spielt Nudging heute im öffentlichen Bereich, und welche wird sie in Zukunft spielen? Ich hoffe, dass die Politik öfter überlegen wird, ob ein Gesetz nötig ist oder das Verhalten libertärer reguliert werden kann. Wichtig ist zu überlegen, wie ein Gesetz gestaltet sein muss, dass es akzeptiert wird, was es bewirkt, wie praktisch es ist und wie die Aufmerksamkeit gelenkt wird. 

Kann man sich selber nudgen? Ja, das geht. Verstecken Sie die Zigaretten und die Schokolade. Nehmen sie ein Abonnement, wenn Sie öfter ins Theater oder in ein Fitnesscenter gehen wollen. Dann haben sie schon Kosten getätigt, die sie rechtfertigen müssen. Auch Seitenwetten bieten sich an. 

Wie das? Ein Raucher kann seinen Freunden erzählen, dass er aufhört und eine Wette abschließen, dass er alle in ein teures Restaurant einlädt, wenn sie ihn mit einer Zigarette erwischen. Schaffen Sie Hindernisse für sich selbst, für jene Verhaltensweisen, die Sie sich abgewöhnen möchten und verstärken sie das, was sie für wünschenswert finden. Also: Ich gehe zum Sport, und danach lasse ich es mir gut gehen. Ich arbeite eine Stunde und mache dann eine angenehme Pause. Man kann sein Verhalten sehr gut mit Anreizen regulieren und mit Verträgen mit sich selbst.

ZUR PERSON
Univ.-Prof. Dr. Erich Kirchler

ist Vorstand des Instituts für Angewandte Psychologie an der Universität Wien. Seine Forschungsaktivitäten betreffen verschiedene Fragestellungen der Arbeits-, Organisations-, Markt-, Konsum- und ökonomischen Psychologie. Der Fokus liegt vor allem auf der Steuerpsychologie und auf dem Geldmanagement in privaten Haushalten.