„How dare you?“

CSR
09.01.2020

 
Der Satz „How dare you?“ hat viele bewegt und insbesondere viele Menschen in der Politik empört, die sich schon lange für mehr Klimaschutz einsetzen: Von der UN-Klimarahmenkonvention über das Kyoto-Protokoll bis hin zum Paris-Vertrag oder das Erneuerbare-Energien-Gesetz in Deutschland. Aus Sicht des Ökonomen und Mathematikers Prof. Dr. Dr. Dr. h.c. Franz Josef Radermacher war der Satz als kalkulierte Provokation gut vorbereitet. Ein kritischer Kommentar. 
Prof. Franz Josef Radermacher ist einer der führenden Vertreter der weltweiten Ökosozialen Marktwirtschaft und tritt mit seiner Global Marshall Plan-Initiative für eine Welt in Balance ein. Als Mitglied des Club of Rome steht er gleichzeitig dem Senat der Wirtschaft International als Präsident vor.
Prof. Franz Josef Radermacher ist einer der führenden Vertreter der weltweiten Ökosozialen Marktwirtschaft und tritt mit seiner Global Marshall Plan-Initiative für eine Welt in Balance ein. Als Mitglied des Club of Rome steht er gleichzeitig dem Senat der Wirtschaft International als Präsident vor.

In der Sache hat der vielzitierte Satz „How dare you?" das „Thema verfehlt“, aber kalkuliert und absichtlich. Er reflektiert jedenfalls – wenn man ihn wörtlich nimmt – ein tiefes Missverständnis über die rechtlichen Möglichkeiten der in New York versammelten Vertreter der Staaten. Diese dürfen anhand ihrer Mandate fast nichts von Relevanz beschließen. Ganz abgesehen davon, dass mutige Beschlüsse der Akteure noch ratifiziert werden müssten (z. B. durch parlamentarische Mehrheiten), bevor sie rechtlich wirksam werden würden. Wenn Politiker mehr täten, würden sie in der Tat viel wagen. Dafür würden sie dann abgesetzt werden und müssten vielleicht sogar ins Gefängnis, auch Frau Merkel. In diesem Fall könnte man dann berechtigter Weise fragen „How dare you?“. Tatsächlich wagen die Politiker jedoch wenig. Sie operieren im Rahmen ihrer rechtlichen Möglichkeiten bzw. politischen Mandate. Und das ist auch gut so.

Lösungen am Horizont

Greta Thunberg sprach in New York zu Politikern und Administratoren, denen die Klimaprobleme ebenso bekannt sind wie ihr. Für die Lösung der Probleme fehlen bis heute bezahlbare Lösungen technischer Art. Diese sind noch nicht vorhanden, bestenfalls am Horizont sichtbar. Ein anderer Lösungsbaustein sind Nature-Based Solutions. Diese können vielleicht ein Fünftel des Problems lösen und werden von Greta Thunberg auch unterstützt (vgl. das interessante Video „Protect, Restore, Fund“, Greta Thunberg und George Monbiot). Hierbei geht es um konsequenten Regenwaldschutz, massive Wiederaufforstung, Humusbildung in der Landwirtschaft etc., damit auch darum, der Atmospähre CO2 zu entziehen (biologische Sequestrie-rung/Negativ-Emissionen).
Greta Thunberg hat sich auch einmal für die Verlängerung der Laufzeiten sicherer Kernkraftwerke ausgesprochen. Das ist ebenfalls ein kluger Vorschlag, der dann aber nicht wieder aufgetaucht ist. Konsumverzicht und mehr Suffizienz helfen ebenfalls nur begrenzt. Das Problem ist das dabei eingesparte Geld. Was passiert anschließend damit? Setzt man dieses über Konsumverzicht freiwerdende Geld für die Verbesserung der Lebenssituation von Pflanzen, Tieren und Menschen in ärmeren Ländern in einer Weise ein, dass gleichzeitig Ressourcen geschützt und die Klimasituation (bilanziell) verbessert wird, hat man alles richtig gemacht. Das gilt z. B. für die oben erwähnten Nature-Based Solutions. Aber die Menschen, die durch Verzicht im Lebensstil weniger Ressourcen verbrauchen, wollen meist das eingesparte Geld für sich und z. B. ihre Angehörigen behalten. Dann geht die positive Wirkung der Suffizienz wieder verloren.

Arm gegen Reich? Alt gegen Jung?

Ohne zusätzliche neue technische Lösungen erfordert die Verhinderung der Klimakatastrophe aktuell vor allem eine deutliche Absenkung des Lebensstandards für die meisten Menschen – ob mit oder ohne Einsatz von Nature-Based Solutions. Auch in einem solchen Szenario werden bestimmte Gruppen weiterhin Gewinne erzielen. Das eigentliche Problem ist die Gefahr, dass eventuell erhebliche Verluste verteilt werden müssen, wobei die Ausgangsbedingungen der Akteure völlig ungleich sind und eine hohe Unsicherheit darüber besteht, ob durch den eingeschlagenen Weg die Ziele überhaupt erreicht werden können. Es geht dabei im Großen um die Lastenverteilung zwischen Staaten, wobei insbesondere die legitimen Aspirationen armer Länder mit nach wie vor rasch wachsenden Bevölkerungen auf eine nachholende Entwicklung eine zentrale Bedeutung haben. Hinzu kommt die Frage der Lastenverteilung zwischen den Bürgern der einzelnen Staaten, auch zwischen Jung und Alt.

Kein Konsens 

Die Politiker in New York hatten zu all diesen Fragen keinen Konsens. Und den gibt es auch zwischen den Menschen insgesamt nicht – weltweit. Es gibt auch keinen Konsens innerhalb der europäischen Staaten, z. B. bzgl. der innerstaatlichen Verteilungsfragen. Die in New York versammelten Regierungschefs hatten guten Willen, operierten aber in den Grenzen von Ver-fassungen/Gesetzen (oft in Demokratien) und im Rahmen internationaler Verträge (z. B. WTO), die nicht einseitig geändert werden können.
Das Ringen um den Brexit zeigt überdeutlich, wie schwer es ist, in Konstellationen mit mehreren Optionen Mehrheiten für Lösungen mit großen Verteilungseffekten zu finden und wie viel Hass beim Auftreten von Verteilungsfragen generiert werden kann bzw. entsteht. Dabei sind die Brexit-Fragen, die innerhalb eines einzelnen Landes (Großbritannien) mit durchsetzbarer Governance und auf hohem Wohlstandsniveau diskutiert werden, einfach im Verhältnis zu dem, was im Klimabereich weltweit zu vereinbaren und durchzusetzen wäre.
Was bedeutet dann „How dare you“? Die Politiker wagen ja letztlich gar nichts. Sie handeln im Rahmen ihrer Mandate (diese erlauben wenig) und lassen ansonsten „beobachtend“ und eher „hilflos“ geschehen, was geschieht, sieht man z. B. einmal von dem US-Präsidenten ab. Wenige Staaten, wie die USA und China, haben großen Einfluss, aber auch ihre eigenen Pläne und Vorstellungen. Die CO2-Emissionen steigen insofern nicht wegen der Unzulänglichkeiten der handelnden Politiker, sondern aus systemischen Gründen, weil die große Mehrheit der Menschen so lebt wie sie lebt und weil sie so leben wollen – in der Tendenz sogar eher noch besser/intensiver. Es gibt außerdem immer mehr Menschen und immer mehr Menschen wollen immer mehr Wohlstand.

Das setzt Energie voraus für vielfältige Nutzungen. Preiswerte Lösungen fehlen. Daraus resultiert die Notwendigkeit, sich einzuschränken, wenn keine neuen technischen Lösungen gefunden werden, aber die Klimakatastrophe trotzdem vermieden werden soll. Das fällt schwer, wenn z. B. mehrere Kinder eine Ausbildung erhalten sollen und zusätzlich ein Haus abbezahlt werden soll.
Die Politiker, auf die Greta Thunberg setzt, sind eingebunden in Strukturen, die sie sofort absetzen, vielleicht sogar wegen Gesetzesverstoß ins Gefängnis werfen würden, wenn sie vieles von dem wagen würden, was sich Greta Thunberg vielleicht vorstellt. Das gilt auch für unsere Bundeskanzlerin. Und die jeweiligen Bevölkerungen würden bei Wahlen wohl sofort Personen wählen, die das Meiste von dem nicht tun würden, was Greta Thunberg sich vorstellt. Und vielleicht würde auch sie selbst nicht in der Welt leben wollen, die entstünde, wenn passieren würde, was sie sich als Maßnahmen vorstellt.
Was ist in dieser Lage zu tun, in der bei gegebener Technik konsequenter Klimaschutz im Wesentlichen auf andere Lebensstile und im Ergebnis auf Verarmung hinauslaufen würde?

Technische Lösungen gesucht

Wir brauchen technische Lösungen, wie übrigens auch vor 300 Jahren zu Zeiten von Carl von Carlowitz, als nicht fossile Energieträger, sondern das Roden und das Verbrennen von Holz das Problem waren. Neben den Nature-Based Solutions sollten wir uns auf technische Lösungen konzentrieren, tun es aber nicht. Dazu zählen vor allem Anwendungen, die es er-möglichen würden, einen Großteil der aktuell verwendeten Primärenergiemenge durch erneuerbare Energien zu erzeugen und diese dann bedarfsabhängig zu speichern und zu transpor-tieren. Diese Anwendungen müssen zu erheblichen Teilen in den sonnenreichen Wüsten der Erde produziert werden, um mit Bezug auf die Kosten des gesamten Produktionsprozesses inklusive der benötigten Infrastruktur mit der heutigen Energiebereitstellung aus fossilen Quellen konkurrenzfähig zu sein. Batterien spielen dabei nur bedingt eine Rolle. Viel wichtiger wer-den voraussichtlich hochenergetische Gase (insbesondere Wasserstoff) und Flüssigkeiten, wie z. B. Methanol sein, um im Transport und der Speicherung funktionale Lösungen zu erhal-ten, die Batterien nicht leisten können. In Panik verfolgen wir solche Lösungsansätze aktuell eher nicht, hingegen setzen wir auf Strategien, die die Lage weiter erschweren werden. Ins-besondere dadurch, dass vorrangig nationale Lösungsansätze diskutiert werden, die primär auf Einsparung und Reduktion von CO2 setzen und mit Blick auf die eingesparte Tonne CO2 um ein Vielfaches teurer sind, als beispielsweise die Umsetzung von Nature-Based Solutions in Nicht-Industrieländern. Die verfolgten Strategien helfen auch in puncto Weltbevölkerungswachstum und nachholende Entwicklung nicht weiter. Die national ineffizient eingesetzten Mittel werden den Staaten in Zukunft an anderer Stelle fehlen, z. B. bei der Gestaltung der Digitalisierung, dem Erhalt eines hohen Bildungsniveaus, der Stabilisierung der Mittelschicht, in der Versorgung einer alternden Gesellschaft, dem Erhalt einer leistungsfähigen (auch digitalen) Infrastruktur und den Herausforderungen, die durch Flüchtlinge entstehen, die wegen Krieg, Bürgerkrieg und aus wirtschaftlichen und/oder klimatischen Gründen ihre Heimat ver-lassen müssen. In der Folge wird das Durcheinander in der nationalen Politik zunehmen. Am Horizont droht der Verlust von Handlungsfähigkeit.

Mehr Raum für Innovation

In Zeiten der Bedrohung muss man einen klugen Kopf behalten. Greta Thunberg könnte mit Unterstützung von Wissenschaftlern die „Führer“ der Welt auffordern, mehr Raum für Innovationen zu schaffen, die mit wenig Aufwand und ohne Wohlstandsverluste viel für das Klima bewirken und insbesondere die Wohlstandserwartungen der wachsenden Bevölkerungen in Afrika, auf dem indischen Subkontinent und anderswo zu befriedigen erlauben, ohne die Ressourcenbasis und das Klimasystem weiter zu belasten. Vielleicht mit einem eigenen Video von der Art, wie es für die Nature-Based Solutions bereits existiert. Ein solcher Weg, wenn er denn gefunden werden kann, erhält den Frieden und erlaubt vielleicht internationalen Konsens auf dem Weg zu globalem Klimaschutz.
Bei aller Debatte sollte man eines nicht vergessen: Eine kluge Verteilung wachsenden Wohlstands ist in heterogenen politischen Strukturen oft möglich. Das Management und die Verteilung erheblicher Verluste, auch in asymmetrischer Form, ist es nicht. Letzteres funktioniert meist nur über Krieg und Bürgerkrieg. Wenn wir keine geeigneten technischen Lösungen finden, kann es durchaus dazu kommen.