soziokratische Führung

Der ­Naturfriseur

Nachhaltigkeit
23.03.2022

Das Naturkosmetik-Unternehmen ­Culumnatura schreitet in die Zukunft – behütet von einer soziokratischen Firmenführung und den „Feen der Philosophie“.
Produktpalette von Culumnatura

„Ich wäre sofort wieder umgekehrt, wenn ich mich nicht vor Eltern und Freunden geniert hätte“, sagt Willi Luger. Damals 1976, als er mit 24 Jahren als frisch gekürter Friseurmeister von der Steiermark nach Ernstbrunn im Weinviertel gegangen ist, um einen Friseursalon zu übernehmen. Es war eine Zeit, als keine Blumen die Dorffenster schmückten und Menschen der Straße fernblieben. Alles war trostlos und ausgestorben. Doch Willi ist geblieben – bis heute. Aus dem Friseurgeschäft ist der Bio-Pionierbetrieb Culumnatura geworden, ein Produktionsbetrieb für 100 % natürlichen Friseurbedarf. Shampoos, Pflanzenhaarfarben – ja, sogar Haarbürsten –, alles nachhaltig, natürlich und unbedenklich. „Unsere Färbemittel kann man sogar essen “, sagt Willi mit einem Lächeln. Eine Erfolgsstory, die fast im Geheimen stattgefunden hat, denn außerhalb der Friseurbranche wurde das Unternehmen kaum in der Öffentlichkeit wahrgenommen. Willi drängt sich nämlich nicht gerne vor und er plappert auch nicht gleich drauflos. Jedoch eines ist er – stur!

Alternativen gesucht
Was ihn am meisten störte: Einerseits werden Kundinnen und Kunden zu Schönheit und Pflege beraten und zur gleichen Zeit müssen Plastikhandschuhe angezogen werden, weil ihnen giftige Chemie in die Kopfhaut massiert wird. Mehr als die Hälfte aller Friseur-Lehrlinge im ersten Lehrjahr leiden unter Ausschlägen, Allergien oder dem sogenannten „Friseur-Ekzem“ an den Händen. Stechender Ammoniakgeruch und Haarsprayschwaden, die den Salon durchziehen, führen zum „Friseur-Asthma“, oder präziser: zu obstruktiven Atemwegserkrankungen. Da hat sich Willi Luger auf Recherche nach den Inhaltsstoffen der Produkte begeben – ein eher erfolgloses Unterfangen in den 80er-Jahren. Da selbst sogenannte „Naturprodukte“ weit entfernt von Natur waren und nicht dem entsprachen, was er selbst gerne in seinem Salon anbieten wollte, musste er es eben selber entwickeln. So beschloss er, eine eigene Naturkosmetik-Linie zu kreieren. Das geht nur, „wenn man ein bisschen deppert ist“, wie er launig meint, „oder halt stur!“

Gleiche Ware, gleicher Preis
Nächtelang hat er abgeschnittene Haare mit der Heißklebepistole zu Haarsträhnen zusammengeklebt, die er dann im Labor testweise mit seinen Entwicklungen eingefärbt hat. Ein langer, steiniger Weg, kleine Kinder zu Hause und der Exekutor mehrmals vor der Tür. Endlich im Jahr 1997 beginnt der Verkauf der ersten biozertifizierten Naturprodukte in Deutschland. Geld hätte er dringend gebraucht, aber eines war ihm auch klar: Die Ethik endet nicht bei den Produkten. Es geht auch um die Würde der gesamten Branche. „Was ich nie verstanden habe, ist, warum die großen Betriebe immer Rabatte bekommen, wenn sie große Mengen von einer Ware abnehmen“, sagt Willi, „das heißt ja, dass die Kleinen, welche den vollen Preis bezahlen, die Großen stützen.“ Daher war für ihn klar: Alle seine Kunden zahlen denselben Preis, egal ob sie ein Shampoo kaufen oder hunderte Flaschen. Da staunte der Inhaber eines großen Friseursalons aus Stuttgart, als er von der „gleichberechtigten Preisung“ Willi Lugers hörte. Er war begeistert von den Produkten und fragte: „Und der Preis – ist hier etwas machbar?“ „Gar nichts“, sagte Willi, „die Flasche kostet so und so viel und basta.“ Noch heute erinnert sich Willi an den offenen Mund des Herren, als er zur Tür hinausging.
Diese Haltung hat ihn und seine mittlerweile über 1.000 Partnerbetriebe durch die Zeiten der Pandemie getragen. Die Produkte gibt es nur bei geschulten Naturfriseuren. „Ich konkurriere doch meine eigenen Partnerbetriebe nicht mit einem Online-Verkauf“, so Luger, auch wenn ihm das stets von externen Marketingberatern und Steuerberatern nahegelegt wurde. Culumnatura hat in Zeiten der Lockdowns Bestellungen sogar direkt vom Werk in Ernstbrunn aus verschickt, die Abrechnung mit den Endkunden aber erfolgte direkt über den jeweiligen Naturfriseurbetrieb, damit die Philosophie kompetent vermittelt wird und die Kundenbindung erhalten bleibt.
„Wir waren gemeinwohlorientiert, bevor es die Gemeinwohlökonomie überhaupt gab“, lacht Astrid Luger, Willis heutige Frau und Co-Geschäftsführerin. „Als wir Christian Felber kennengelernt haben und er uns erzählt hat, was Gemeinwohlökonomie ist, haben wir gesagt: Das alles machen wir doch seit zwanzig Jahren.“ Astrid ist heute auch eine der Sprecherinnen der Gemeinwohlökonomie.

Astird und Willi Luger
Astrid & Willi Luger, Culumnatura

Längst ist das Unternehmen mehr als ein Produktionsbetrieb. Rund um die Palette an Naturkosmetikprodukten rankt sich eine ganzheitliche Akademie mit Seminaren und Workshops. „Die Organisation ist sehr kosten- und zeitintensiv“, so Astrid. „Aber es geht nicht anders“, setzt Willi nach, „denn die Naturkosmetikprodukte muss man verstehen und sich wirklich mit Haaren auskennen.“ 2010 hat die eigene Culumnatura-Akademie in Ernstbrunn eröffnet und im Jahr darauf auch die Akademie in Polen. Wer „Naturfriseur“ werden will, vollzieht einen Paradigmenwechsel innerhalb des Berufs – von „Handlangern der Kosmetikindustrie“ (Zitat Willi) zu hochqualifizierten und naturverbundenen Schönheitsberaterinnen und Beratern. Gerade jetzt in diesen Umbruchszeiten kommen laufend neue Naturfriseure hinzu, fast wie in einer Grassroots-Bewegung, die parallel zum Mainstream Blüten trägt. „Es gibt noch viel zu tun“, sagt Astrid, „zum Beispiel stört uns, dass wir immer noch in Kunststoff-Flaschen abfüllen, aber wir haben noch keine bessere Alternative gefunden.“

Wir waren gemeinwohlorientiert, ­bevor es die Gemeinwohlökonomie überhaupt gab.

Astrid & Willi Luger, Culumnatura

Soziokratische Unternehmensführung
Am allerwichtigsten aber ist derzeit die Unternehmensnachfolge, und auch da geht das Unternehmen neue Wege. Culumnatura wird in eine Stiftung eingebracht und die Organisation wird soziokratisch aufgestellt. „Auch das haben wir immer schon gemacht, ohne den Begriff zu kennen“, sagt Willi Luger, aber jetzt wird das konsequent und verbindlich durchgezogen. Die Teams wählen die Delegierten selbst und das keineswegs mit einem Mehrheitsbeschluss. Was zählt, ist das bessere Argument. „Da hört man dann Dinge, die man sonst nie hört“, sagt Astrid Luger, „wie etwa: Du hast in der anstrengenden Situation sehr gelassen reagiert und bist mit einer guten Idee gekommen. Ich denke, du bist eine gute Teamleiterin.“ Die für eine Leitungsfunktion erforderlichen Kompetenzen werden vorher gemeinsam gesammelt. „Wir machen das, weil wir aus langer Erfahrung wissen, dass soziokratische Prozesse wesentlich schnellere Entscheidungen bringen, die noch dazu in weitere Tiefe führen“, so Willi Luger. Zugleich werden Hüterinnen der Philosophie installiert, also gute Feen, die bei allen Entscheidungen in der Firma auf den ursprünglichen Unternehmenszweck verweisen und den Ethos hüten. So möchte Willi Luger, dass seine Prinzipien erhalten bleiben: konsequent, natürlich, ehrlich.