Nachhaltige Lieferketten

Dem Liefer­kettenschock vorbeugen

Lieferkettengesetz
04.10.2023

Da es wohl noch zwei bis drei Jahre dauern wird, bis Österreich ein eigenes Lieferkettengesetz hat, wiegen sich viele Unternehmen noch in Sicherheit. Doch es gibt reichlich Gründe, sich schon jetzt möglichen Risiken und Nebenwirkungen seiner Lieferkette zu widmen.
Schiffscontainer aus aller Welt

Die landwirtschaftlichen Maschinen zum bodennahen Ausbringen von Gülle auf den Feldern, die das oberösterreichische Unternehmen Vakutec produziert, bestehen aus so vielen Einzelteilen, dass das Unternehmen bis zu fünfmal mehr Lieferanten als Kund*innen hat. Das wurde in der Corona-Pandemie zum Problem, weil nicht mehr alle Einzelteile in ausreichender Menge verfügbar waren. Karl Steinmann, einer der drei Geschäftsführer des Betriebs mit rund 40 Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen, erklärt: „Es kam bei allen unseren Lieferanten zum Bullwhip-Effekt, das heißt, ihre Kunden haben viel mehr gekauft und auf Lager gelegt, als sie eigentlich gebraucht hätten.“ Diese Lieferanten waren mitunter Konzerne: „Nachdem wir eine relativ kleine Firma sind und nicht so eine große Marktmacht haben, haben manche Lieferanten die Partnerschaftlichkeit auf Augenhöhe, die wir bis dahin gepflegt haben, vergessen. Diese Lieferanten sind jetzt nicht mehr unsere Lieferanten, weil sie uns in der Krise hängen gelassen haben.“ Vakutec wechselte, etwa bei Reifen, auf andere Anbieter. Zum Glück sei der Großteil der Lieferanten treu geblieben. Fazit nach den Lieferketten-Problemen während der Pandemie: „Wir haben uns auf gut österreichisch durch die Krise gewurschtelt und sind relativ gut durchgekommen.“

Zu viel Bürde für KMU?

Dieses Beispiel ist nur eine Ausprägung davon, dass im Bereich Lieferketten kaum ein Stein auf dem anderen bleibt – und die Zukunft wird noch mehr Umwälzungen in den Supply-Chains bringen. Aus Sicht von Franz Staberhofer, Leiter des Logistikums an der FH Oberösterreich, kommen im Gegensatz zu Corona die richtig großen Brocken erst: der Green Deal der EU, die Blöckebildung in der Geopolitik und die demografische Entwicklung. Der Green Deal, der etwa die Taxonomie und künftig auch ein europäisches Lieferkettengesetz im Gepäck hat, wird laut Staberhofer „unendlich viel verändern“ – auch und insbesondere für KMU, denen viel zu viel aufgebürdet werde, denn so wie das Lieferkettengesetz derzeit geplant ist, sei es unrealistisch: „Mit dem Lieferkettengesetz verweigert die Politik ihre Verantwortlichkeit und schiebt diese in die Unternehmen, die dadurch einen vielfachen Aufwand haben.“

Verantwortung bei Unternehmen

Zwar gibt es das Gesetz noch nicht einmal auf EU-Ebene, denn der Richtlinientext wird derzeit verhandelt. Klar ist aber bereits, dass die Unternehmen selbst Verantwortung dafür tragen werden, nur mit Lieferanten zusammenzuarbeiten, die Umweltstandards, Arbeits- und Menschenrechte beachten. Und obwohl das Gesetz erst Unternehmen ab 500 Mitarbeiter*innen treffen soll, werden auch KMU davon betroffen sein, weil sie gegenüber ihren Lieferanten offenlegen müssen, dass bei ihnen und wiederum bei ihren Lieferanten alles mit rechten Dingen zugeht und beispielsweise Umwelt-Auflagen erfüllt werden. Es ist auch egal, wo auf der Welt die Lieferanten sitzen. Doch wie soll ein KMU überprüfen, wie Arbeitskräfte bei Lieferanten aus China oder Indien behandelt werden – erst recht, wenn sie weit mehr als einen Lieferanten haben?

Unternehmen sollten sich schon jetzt strategisch mit dem Lieferketten­thema befassen.

Franz Staberhofer, Logistikum FH Oberösterreich

Franz Staberhofer, Logistikum FH Oberösterreich, im Porträt
Franz Staberhofer, Logistikum FH Oberösterreich

Taxonomie, ESG-Regeln, UN Sustainable Development Goals, Corporate Sustainability Reporting Directive (CSRD) ab 2025 und eben das EU-Lieferkettengesetz – mit alldem müssen sich KMU jetzt und in naher Zukunft auseinandersetzen. Für Franz Staberhofer ist da Überlastung vorprogrammiert: „Es kommt derzeit unzulässig viel Belastung auf die KMU zu. Wer glaubt, dass sie die vielen Anforderungen erfüllen können oder damit kurzfristig eine CO2-Reduktion erreichen, ist naiv.“ Aus seiner Sicht hätte die EU eine Gestaltungschance, selbst eine Positiv-Negativ-Liste zu erstellen. Er hofft, dass so etwas zumindest in Österreich mithilfe des Supply Chain Intelligence Institute Austria (ASCII – siehe Interview mit Peter Klimek) gelingen wird, an dem das Logistikum beteiligt ist, um die Unternehmen zu entlasten. Er bemüht sich inzwischen unter anderem mit Maßnahmen wie Online-Veranstaltungsserien KMU zu ermutigen, wirklich alle Fragen zu stellen: „Viele Unternehmer denken, sie müssten vieles über das Lieferkettengesetz, die Taxonomie oder den Grenzsteuersatz wissen. Im Gegenteil: Jede Frage ist erlaubt und gewünscht. Und die Frage, die man stellt, stellt man für die anderen 80 Prozent, die das auch nicht wissen.“ Unternehmer sollten offen aussprechen: „Ich verstehe es einfach nicht, weil das alles zu viel ist.“

Weltweit zu wenige Arbeitskräfte

Hinzu kommt die geopolitische Blöckebildung, die sich auch auf KMU auswirken wird, wenn es etwa zu Exporteinschränkungen in Ländern wie China kommt oder sich Zoll-Regelungen wegen geopolitischer Verschiebungen ändern. Und die demografische Entwicklung werde sich ebenso weltweit auf Lieferketten auswirken: „Der Arbeitskräftemangel bezieht sich nicht nur auf Österreich und Europa, sondern auf die ganze Welt.“ So gebe es etwa auch in Malaysia nicht genug Arbeitskräfte. Und auch in China gebe es als Auswirkung der Ein-Kind-Politik und der daraus folgenden alternden Bevölkerung bereits Verlagerungen von Arbeit nach Vietnam. „Wenn die Menschen mit den gewünschten Kompetenzen nicht mehr vorhanden sind, wird sich das Marktgefüge auf der ganzen Welt verschieben.“ Zu alledem kommen Themen wie etwa die nicht endlose Verfügbarkeit von Energie und Wasser: „Die Fakten zeigen, dass nicht ausreichend grüne Energie da sein wird. Dieser Engpass wird zusätzlich durch den Mehrbedarf an Energie durch die Digitalisierung weiter verstärkt.“ Auch Wasser werde immer mehr zum Engpass, was sich wiederum auf die Energieproduktion und die Migrationsströme auswirken werde. Aus Staberhofers Sicht wäre es ratsam, wenn sich Unternehmen schon jetzt strategisch mit diesen Fragen auseinandersetzen, denn all die angesprochenen Entwicklungen würden viel länger andauern und eine stärkere Wirkung haben als etwa die Covid-Pandemie. Anstatt also nervös auf jedes neue Ereignis zu reagieren, das Lieferketten beeinflussen kann, sollten Unternehmen lieber ihr Angebot an die neuen Rahmenbedingungen anpassen, denn darin liegt auch die Chance, einen Wettbewerbsvorteil zu erlangen.
Wie sehr alleine ein neues Lieferkettengesetz KMU unter Druck setzen kann, zeigt das Beispiel des deutschen Stahlbauers Butzkies, einem mittelständischen Traditions-Familienunternehmen – nachzulesen in der September-Ausgabe des Wirtschaftsmagazins „brand eins“. Deutschland hat seit Jänner 2023 ein Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz, über das man sich bei Butzkies aber zunächst keine Gedanken machte, weil es nur für Unternehmen ab 3.000 Mitarbeitern gilt – bzw. ab 2024 ab 1.000 Mitarbeitern. Butzkies kommt da mit 180 Leuten nicht heran. Doch im Dezember 2022 trudelte ein E-Mail von Audi ein, einem der besten Kunden des Unternehmens: Als Glied in der Lieferantenkette von Audi müsse Butzkies innerhalb von sechs Monaten ISO-Zertifizierungen beibringen und per Selbstauskunft erklären, dass man die Standards des Lieferkettengesetzes einhalte – von Abfallvermeidung über Arbeitssicherheit bis Energieeffizienz und Vermeidung von Zwangsarbeit. Andernfalls könne man nicht mehr zusammenarbeiten. Dasselbe galt auch für andere Premium-Kunden aus dem Automobilsektor. Es war nötig, wie die Beraterin des Unternehmens zitiert wird, „jeden Stein im Unternehmen umzudrehen“, was einen Betrag im sechsstelligen Bereich kostete. Am Ende ging – extrem knapp – alles gut.

Extrem große Unsicherheit

So etwas kann auch österreichischen KMU passieren, denn auch sie sind vom deutschen Lieferkettengesetz betroffen, wenn sie Lieferant eines großen deutschen Unternehmens sind – oder Lieferant eines Lieferanten. Außerdem wird es voraussichtlich in zwei bis drei Jahren, aufbauend auf der oben genannten EU-Richtlinie, auch ein österreichisches Lieferkettengesetz geben. Miriam Wilhelm, Professorin für Nachhaltiges Lieferketten-Management an der WU Wien, bemerkt derzeit „eine extrem große Unsicherheit unter Unternehmen, die oft gar nicht verstehen, was da auf sie zukommt und was genau von ihnen eigentlich verlangt wird“. Viele Unternehmen hätten noch wenig Erfahrung mit dem Thema Nachhaltigkeit in der Lieferkette bzw. seien noch damit beschäftigt, Nachhaltigkeit in ihrer Produktion zu managen.
Können sich Unternehmen schon jetzt vorbereiten, damit ihnen ein Schock erspart bleibt? Ja, das ist möglich. Wilhelm rät Unternehmen, als ersten Schritt die eigene Lieferkette transparent zu machen, was „alles andere als trivial“ sei, denn „viele Unternehmen kennen ihre Lieferkette eigentlich gar nicht. Sie kennen ihre direkten Lieferanten, aber wenn es um die zweite, dritte Ebene und so weiter geht, wissen viele gar nicht, wer ihre Lieferanten sind. Und wenn man nicht weiß, wer die Lieferanten sind, weiß man auch nicht, welche Risiken in der Lieferkette schlummern.“ Diese Aufgabe auf externe Anbieter, die sich auf die Risikoüberprüfung von Lieferketten spezialisiert haben, auszulagern, sieht Wilhelm eher skeptisch. Ihrer Einschätzung nach sind das oft Softwareunternehmen, die oft eher mit Daten auf Länderebene anstatt auf Lieferantenebene arbeiten: „Natürlich kann es hilfreich sein, mit solchen Anbietern und Beratungen zusammenzuarbeiten, gerade wenn Unternehmen noch wenig Erfahrung haben. Aber ich denke, sie werden nicht darum herumkommen, sich auch selbst aktiv mit ihrer eigenen Lieferkette zu beschäftigen.“

Orientierung an Deutschland

Wer einen Schritt weitergehen will, kann sich laut Miriam Wilhelm vorerst am deutschen Lieferkettengesetz orientieren: „Das deutsche Lieferkettengesetz ähnelt in vielerlei Hinsicht der EU-Direktive: Es hat auch die Idee der Sorgfaltspflicht als zentralen Bestandteil, und im nächsten Schritt ist auch die Notwendigkeit einer umfassenden Risikoanalyse in der Lieferkette wichtig.“ Die EU-Direktive werde weitgreifender sein und mehr Unternehmen erfassen – das EU-Gesetz wird schon Unternehmen ab 500 Arbeitnehmer*innen direkt betreffen, und in Hochrisikosektoren bereits Firmen ab 250 Arbeitnehmer*innen.

Es ist wichtig vorzubauen, weil zusätzlich zu den vielen Regelungen auch der Kundendruck steigt.

Vera Hemmelmayr, WU Wien

Vera Hemmelmayr,  WU Wien
Vera Hemmelmayr, WU Wien

Nachhaltiges Wirtschaften ist laut Miriam Wilhelm „eine Notwendigkeit, die wir 2023 zum Glück nicht mehr diskutieren müssen“. Alle Unternehmen, die sich schon jetzt proaktiv mit dem Thema beschäftigen, „werden im Vorteil sein“. Auch Vera Hemmelmayr, Professorin am Institut für Transportwirtschaft und Logistik an der WU Wien, bestätigt: „Es ist wichtig vorzubauen, weil zusätzlich zu den vielen Regelungen auch der Kundendruck steigt.“ Ein Unternehmen, das etwa seine Produkte auf der letzten Meile bereits mit Lastenrädern zustellt, hat einen Wettbewerbsvorteil, wenn in Städten weitere Beschränkungen eingeführt werden: „Wenn sich rechtliche Rahmenbedingungen ändern, kann sich eine nachhaltige Strategie, die vormals weniger profitabel war, auf einmal als die bessere erweisen.“ Außerdem seien die Unternehmen dann besser vorbereitet, hätten die relevanten Prozesse schon angepasst und das nötige Know-how erworben. Deshalb sei es kein Fehler, sich schon jetzt anzuschauen, wie man etwa die Logistik, Hemmelmayrs Spezialgebiet, und Lieferketten nachhaltig gestaltet.

Vorsprung bei den Banken

Auch im Kontakt mit Banken werden jene Unternehmen, die schon jetzt ihre Lieferketten schrittweise auf die grünen und fairen Anforderungen vorbereiten, einen Vorsprung haben. Klaus Kumpfmüller, Vorstandsvorsitzender der Hypo Oberösterreich, weist darauf hin, dass KMU künftig von Banken gebeten werden, Daten und qualitative Informationen wie etwa strategische Maßnahmen offenzulegen: „Wir sind verpflichtet, sowohl unternehmensbezogene Daten als auch Daten, die mit zu finanzierenden Investitionen verbunden sind, in ein ESG-Scoring-System überzuleiten. (Anmerkung: ESG steht für Environmental Social Governance, zu Deutsch: Umwelt, Soziales und Unternehmensführung.) Ziele sind die Beurteilung zu erwartender physischer und transitorischer Risiken und die Schaffung von Grundlagen für die Nachhaltigkeits-Berichterstattung, zu der wir als Bank verpflichtet sind.“ Viele mittlere und größere Unternehmen hätten bereits professionell agierende ESG-Verantwortliche: „Aber es gibt auch – mehrheitlich kleine – Unternehmen, die noch wenige Aktivitäten gesetzt haben.“ Das werde sich in den nächsten Monaten wohl ändern, weil Banken, aber auch Kunden dieser Unternehmen, die Reportingpflichten einhalten müssen, künftig ESG-relevante Fragen stellen werden.

Wer sein Unternehmen jetzt zukunftsfit macht, wird für den folgenden Wirtschaftsaufschwung gut gerüstet sein.

Klaus Kumpfmüller, Hypo Oberösterreich

Klaus Kumpfmüller, Hypo Oberösterreich, im Porträt
Klaus Kumpfmüller, Hypo Oberösterreich

Die Hypo Oberösterreich rät ihren Kund*innen, bereits vorhandene interne Informationen aus dem Fuhrparkmanagement, der Controlling- und Personalabteilung, dem Produktionsmanagement etc. strukturiert zu erfassen. Kumpfmüller versteht, dass Unternehmen angesichts des hohen Ressourceneinsatzes, den die Beantwortung ESG-relevanter Fragen oft erfordert, den bürokratischen Aufwand kritisch sehen. Doch trotz der Mühsal sieht er auch eine Chance darin: „Häufig braucht es externe Impulse, um längst notwendige Handlungen zu setzen. Wer sein Unternehmen jetzt zukunftsfit macht, wird für den folgenden Wirtschaftsaufschwung gut gerüstet sein.“
Und da können KMU sogar im Vorteil sein – zum einen, weil sie tendenziell stärker auf regionale Lieferanten setzen, und zum anderen, weil sie dadurch meist stärkere Beziehungen zu ihnen haben. Beides ist beim Landwirtschaftsmaschinen-Anbieter Vakutec der Fall. Geschäftsführer Karl Steinmann: „Eines der entscheidenden Dinge ist die persönliche Beziehung zum Lieferanten.“ Er ist überzeugt: Einer der Hauptgründe, warum der Großteil der Lieferanten Vakutec auch während der Corona-Krise gut versorgt hat, waren die intensiven Beziehungen. Und so ist nebenbei auch noch die Lieferkette überschaubarer.

Vorbereitung trotz Unklarheit

Es wäre wichtig, sich auf das Lieferkettengesetz vorzubereiten. Aber ist es überhaupt möglich, sich auf ein Gesetz vorzubereiten, das es noch nicht gibt und von dem nur wenige Eckpunkte bekannt sind? Laut Miriam Wilhelm, Professorin für Nachhaltiges Lieferketten-Management an der WU Wien, können sich österreichische Unternehmen vorerst am Bafa-Leitfaden des Deutschen Bundesamts für Wirtschaft und Ausführkontrolle orientieren: „Das sind die Fragen, die die Unternehmen jetzt im deutschen Lieferkettengesetz beantworten müssen.“ Der Leitfaden ist auf der Bafa-Website zu finden. Klaus Kumpfmüller, Vorstandsvorsitzender der Hypo Oberösterreich, verweist auf ein weiteres nützliches Hilfsmittel, nämlich auf den von Banken und der Oesterreichischen Kontrollbank entwickelten OeKB ESG-Data-Hub. Dort werden ESG-relevante Fragen strukturiert aufgezeigt, und die erforderlichen Daten können auch gleich erfasst werden: „Das ist ein großer Vorteil. Ergebnis ist ein ESG-Scoring, welches künftig Banken und Steuerberatern zur Verfügung gestellt werden kann.“ Und vielleicht wird das auch einmal für Lieferanten hilfreich, die ebenfalls nachfragen werden.