Harald Koisser macht Mut

Zeit der Schwarzen Schwäne

Prognose
08.06.2022

Mehr probieren, weniger planen. Wie wir mit der zunehmenden Ungewissheit umgehen können.
Schwarzer Schwan

Bis in das 17. Jahrhundert hinein war es für Europäer eine unanfechtbare Wahrheit, dass alle Schwäne weiß sind. Dann entdeckten die ersten Europäer Australien, Willem Janszoon und bekanntermaßen James Cook. Und in Australien gibt es zuhauf schwarze Schwäne. Eine unumstößliche ornithologische Wahrheit wurde damit widerlegt. Für Leute, die sich für Schwäne und andere Vögel nicht interessieren, mag das nicht mehr als ein Schulterzucken wert sein, doch der Begriff des „Schwarzen Schwans“ ist wissenschaftlich bedeutsam geworden. Ich habe in der Statistikvorlesung am Publizistikinstitut in den 80er Jahren davon das erste Mal gehört. Nassim Taleb hat ein spannendes Buch dazu geschrieben. Ein „Schwarzer Schwan“ bezeichnet das Eintreten eines völlig unerwarteten Ereignisses. Damit ist kein Ereignis mit äußerst geringer Wahrscheinlichkeit gemeint, denn eine geringe Wahrscheinlichkeit hieße, dass es immerhin, wenn auch kaum, möglich wäre. Nein, ein Schwarzer Schwan ist nicht einmal denkbar. Bis zu dem Zeitpunkt, wo er landet.
Das Wesen eines Schwarzen Schwans ist also, dass er völlig unerwartet kommt, nichts in der Vergangenheit auf ihn hingedeutet hätte, er enormen Impact hat und dass sein Eintreffen im Nachhinein völlig logisch erklärt werden kann. Letzteres darf nicht verwundern, denn wenn etwas am Ende einer Kausalkette steht, können wir sie leicht rückwärts verstehen. Vorwärts war es uns nicht möglich.
Ich erzähle das, weil wir in die Zeit der Schwarzen Schwäne eingetreten sind. Wir erleben soeben eine Serie von Schwarzen Schwänen und ich muss leider sagen, dass weitere Sichtungen dieser Spezies zu erwarten sind. Warum das so ist? Das hat mit der weiterhin voranschreitenden Vernetzung der Welt zu tun, also mit der Zunahme an Komplexität. Der Psychologe Dietrich Dörner hat für hohe Komplexität einmal das Bild eines Schachspieles geprägt, wo alle Figuren untereinander mit unsichtbaren Fäden verbunden sind. Überlegt man sich einen genialen Zug und führt ihn aus, so bewegen sich plötzlich völlig unerwartet viele andere Figuren ebenfalls und ändern ihre Positionen. Damit ist natürlich der eigene geniale Plan über den Haufen geworfen und die Situation hat sich grundlegend geändert. Und dann überlegt man den nächsten genialen Zug, mit dem man das Spiel fortsetzt. Entscheidungsträger sind heute mit solch einer Komplexität konfrontiert.  
Eben weil wir bemerkt haben, dass alles mit allem zusammenhängt, bemühen sich alle auf globaler Ebene um die Nivillierung von Schwankungen. Dazu gibt es Institutionen und Gesetze und Regelwerke, die diese unangenehmen Sinuskurven glätten und zu einer geraden überschaubaren Linie machen sollen. Das gelingt bedingt, denn die komplexen Prozesse kommen damit in einen Druckkochtopf, der dann unerwartet explodiert. Die Schwarzen Schwäne kommen umso heftiger und verheerender. Die Konzentration von Banken etwa soll erreichen, dass der große Crash unwahrscheinlicher wird. Das gelingt auch. Wenn er dann aber doch eintritt, dann mit einer immensen globalen Wucht.
Damit diese Kolumne nicht apokalyptische Ausmaße annimmt, möchte ich die Chancen dieser Situation aufzeigen. Wir sollten beginnen, uns auf Schwarze Schwäne einzustellen, ohne sie vorhersagen zu wollen. Vorhersagen funktionieren nicht. Es reicht, eine innere Haltung der Offenheit einzunehmen. Dann sollten wir mehr probieren und weniger planen. Privat und beruflich. Probieren begünstigt den Eintritt von Schwarzen Schwänen. Sie haben nämlich auch eine helle Seite. Unerwarteter hoher Impact muss ja nicht immer schlecht sein. Es kann ja auch bedeuten, dass plötzlich eine Produktgruppe, von der wir es nie erwartet haben, ein Riesenerfolg wird. Völlig ungeplant aus Gründen, die erst im Nachhinein logisch sind. Aus einem privaten Hobby kann ein künstlerischer Erfolg werden. In der Zeit der Schwarzen Schwäne geht es eben darum zu experimentieren und nicht die Vergangenheit zu verherrlichen. Das haben wir schon immer so gemacht, das ist unser Erfolgsrezept, unsere Käufer sind eben so, etc. – solche Verhärtungen sind hochriskant.
Wenn der mögliche Verlust einer geplanten Unternehmung (einer Idee, einer Produktentwicklung) überschaubar ist, sollte man so wagemutig wie möglich sein. Taleb schlägt in seinem Buch vor, alles zu ergreifen, was nach einer Gelegenheit aussieht. Dann können wir von der Ungewissheit profitieren. Anstatt Schwarze Schwäne zu vermeiden, sollte man sich ihnen aussetzen. Komm ins Offene, hat uns schon der Dichter Friedrich Hölderlin zugerufen.