Jäger und Gejagte

Industrie
15.05.2019

 
Die Digitalisierung verändert die Produktionswelt grundlegend. Neue Techniken bringen Vorteile aber auch Schwierigkeiten. Die Trends im Überblick.

Die Digitalisierung verändert die Art, wie Unternehmen arbeiten und produzieren. Alles wird schneller, effizienter und kommt mit weniger Menschen aus. Die klassische Industrie steht besonders im Fokus, weil hier die härtesten Kämpfe um die Einführung neuer Technologien ausgefochten werden – und der Druck des Weltmarktes auf die exportorientierten Hersteller so groß ist, dass längst nicht mehr klar ist, wer zu den Treibern und wer zu den Getriebenen gehört.

5G UND IOT: VORBEREITEN AUF DEN NÄCHSTEN SPRUNG

In vielen Fabriken heimischer Hidden Champions sowie in der starken Zulieferindustrie ist die Kommunikation vernetzter Maschinen schon Realität. Sensoren registrieren das Geschehen in den Werkhallen und senden eine Datenlawine, die von Algorithmen entschlüsselt, interpretiert und zurück in die Lieferkette geschickt wird. Die Vorbereitungen für den nächsten technologischen Sprung laufen bereits: Im März wurden die ersten Frequenzen des Mobilfunkstandards 5G versteigert. Bei dieser Technologie stehen übrigens weder Verbraucher noch autonome Autos im Mittelpunkt, sondern vor allem die Industrie – und das „Internet der Dinge“, das Milliarden von Komponenten miteinander vernetzen soll. Freilich ist bei fast jedem vierten Betrieb die Produktion schon heute ganz oder teilweise vernetzt, so das Ergebnis einer Umfrage von Ernst & Young unter 250 österreichischen Industrieunternehmen. Mehr als jeder dritte Hersteller nutzt digitale Steuerungen, eine große Mehrheit der Betriebe setzt die Automatisierung von Produktionsprozessen ein. Roboter und 3D-Druck sind bei etwa jedem fünften Unternehmen im Einsatz, Künstliche Intelligenz spielt bei etwa sieben Prozent der Firmen eine Rolle.

„DIGITALER ZWILLING“ BEIM VERBUND

Zwei richtungsweisende Projekte als Beispiel: Der Verbund, einer der größten Wasserkrafterzeuger Europas, hat schon in den 1970er-Jahren die Fernsteuerung aller Anlagen automatisiert. Im Vorjahr startete der Energieversorger mit einem „digitalen Zwilling“ des Wasserkraftwerks Rabenstein an der Mur in der Steiermark. Das Ziel: Ein exaktes digitales Abbild des gesamten Kraftwerks auf einer Datenplattform im Hintergrund, um die Instandhaltung zu vereinfachen. In einem 3D-CAD-Modell werden alle Maschinensätze sichtbar, Augmented-Reality-Brillen liefern Informationen zu allen Komponenten, KI-Systeme übernehmen in den Datenmustern in den Betriebsabläufen das „Machine Learning“ und sagen drohende Störungen voraus.

VOESTALPINE: 3D-DRUCK MIT METALL

Genau deswegen stößt das „gläserne Kraftwerk“ des Verbunds auf großes Interesse auch bei Branchenfremden – etwa der voestalpine. Der Linzer Konzern positioniert sich in der Bahnindustrie ebenso wie in der Belieferung der Autoindustrie. Eines der laufenden Projekte der voestalpine widmet sich Entwicklungen zu additiver Fertigung – aber nicht wie üblich mit Kunststoffen, sondern mit Metall. In Kapfenberg, wo die Linzer gerade ein neues Edelstahlwerk bauen, ist eine Pilotanlage zur Herstellung von extrafeinem Metallpulver bereits in Betrieb, das als Vormaterial für den 3D-Druck dient. Ab heuer soll auch Titanpulver hergestellt werden. Damit beliefert die voestalpine unter anderem den Autoindustriekonzern Pankl in direkter Nachbarschaft, der aus dem Pulver im speziellen 3D-Druck fertige Metallteile produziert.

BUDGETS FÜR IT UND ROBOTIK STEIGEN

Diese Veränderungen spiegeln sich auch in den Budgets wider. Heuer erhöhen rund 44 Prozent der Unternehmen im deutschsprachigen Raum ihre IT-Investitionen, etwa jeder siebte Betrieb um mehr als zehn Prozent, heißt es beim IT-Berater Capgemini Österreich. Ein Viertel dieser Gelder soll in die Digitalisierung fließen – darunter in eine bessere Datenanalyse, die Grundlage für Dienste wie Machine Learning und Künstliche Intelligenz. Auch der Einzug der Roboter gewinnt an Fahrt. Der Beratungsgesellschaft Deloitte zufolge will fast jedes zweite heimische Industrieunternehmen heuer in robotergesteuerte Prozessautomatisierung investieren, weitere 37 Prozent sagen, dass das mittelfristig vorstellbar ist. Weil auch der Mittelstand allmählich Interesse zeige, müssten künftig verstärkt einfach zu programmierende Roboter entwickelt werden, heißt es bei Deloitte. Der Auftragsforscher Profactor verweist darauf, dass neue Maschinen und Roboter speziell in KMU und dem Handwerk Mitarbeiter unterstützen können, wenn diese zum Beispiel mit schweren Teilen oder Platten hantieren oder Produktionsmaschinen mit Vormaterial bestücken müssen. In der Bauwirtschaft fräsen Roboter komplexe Formen aus Holz, Metall, Kunststoff oder bearbeiten Stein und Beton.

HILFESTELLUNGEN BEI FEHLENDER STRATEGIE

Gerade im Mittelstand wissen jedoch viele Firmen nicht, wo sie ansetzen sollen. „Dabei ist Abwarten gefährlich“, so Roland Sommer, Chef der Plattform Industrie 4.0. Diese interdisziplinär zusammengesetzte Initiative will sich deshalb 2019 verstärkt kleinen und mittleren Betrieben öffnen – hat aber bei dieser Ankündigung im Jänner noch keine klar definierten Schritte genannt. Konkreter wird da schon „KMU Digital“, eine Initiative des Wirtschaftsministeriums mit der Wirtschaftskammer, die gezielt mittelständische Unternehmen rund um Themen wie 3DDruck, Internet der Dinge, KI und Big Data begleitet. Hier gibt es eine erste individuelle Analyse, Beratung, Förderungen sowie Seminare im Internet, die jeder live am eigenen Rechner mitverfolgen kann. Dabei beschreiben Experten der Initiative die einzelnen Schritte und stellen Firmen vor, die schon erfolgreich digital arbeiten. Auch auf Landesebene entstehen neue Anlaufstellen – etwa seit dem vorigen Herbst das „Digitale Transferzentrum“, ein gemeinsames Forschungszentrum von Salzburg Research und der FH Salzburg, das vor allem KMU bei der Einführung digitaler Prozesse und der Einschulung der Mitarbeiter unterstützen will. Auf der Agenda unter anderem: Digitale Zwillinge, vernetzte Logistik oder kollaborative Fertigung.

KI ALS BAUKASTEN

Dabei ist der Weg gerade für den Mittelstand gar nicht so weit, wie all die Schlagworte es bisweilen erscheinen lassen. „Es ist heute viel leichter, rund um eine angreifbare, reale und analoge Produktpalette eine digitale Welt zu schaffen“, sagt Nikolaus Kawka, Geschäftsführer von Zühlke. Der Schweizer IT-Dienstleister Zühlke ist mit einer großen Dependance in Österreich vertreten und bietet Unternehmen seine Dienste auf zwei Ebenen an: Als Berater prüfen Experten von Zühlke die Digitalisierungsideen ihrer Kunden auf Machbarkeit und Wirtschaftlichkeit. Auf der zweiten Ebene entwickeln sie zusammen mit Kunden neue digitale Systeme und Geschäftsmodelle und integrieren diese in die bestehenden Produktionsabläufe.

Zum Beispiel bei Künstlicher Intelligenz. Nikolaus Kawka verweist hier auf bereits fertige digitale Module, die wie Bausteine verfügbar seien: „Der Trend geht dahin, dass KI schon fix und fertig geliefert wird und zum Beispiel über ,Azure‘, den Cloud-Dienst von Microsoft, sehr einfach eingesetzt werden kann. Die KI darin ist weggekapselt, sodass sich jeder hochkomplexe Algorithmen zusammenstellen, einsetzen und nutzen kann, ohne sie im Detail verstehen zu müssen.“

Anschauliche Anwendungsfälle für KI sind etwa Programme, die am Gesichtsausdruck von Menschen deren Stimmung erkennen. Oder Programme zur Spracherkennung, wie sie ein Chatbot braucht. Oder Übersetzungsdienste aus der Cloud, die einen gesprochenen Satz in einer anderen Sprache wiederholen. „Heute kann man innerhalb von wenigen Tagen einen Dienst bauen, der gesprochene Sprache versteht – weil Spracherkennung bereits als Modul mitgeliefert wird. Wir haben zum Beispiel einen Prototypen entwickelt, der über eine Software die Sprachen aller Nachbarländer Österreichs ins Deutsche und zurück übersetzen kann. Oder einen Wasserspender mit Gesichtserkennung für den oberösterreichischen Wasseraufbereiter BWT. Beide Prototypen waren innerhalb von Wochen fertig. Vor zehn Jahren brauchte man dazu noch mehrere Dissertationen“, sagt Kawka.

„Es ist heute viel leichter, rund um eine analoge Produktpalette eine digitale Welt zu schaffen.“, Nikolaus Kawka, Geschäftsführer von Zühlke

AR: HOLOGRAMME FÜR DEN MOTOR

Deutlich länger dauert es bei Projekten mit Industriereife, wie ein Beispiel in Deutschland zeigt. Zusammen mit dem Hamburger Weltkonzern Jungheinrich, der vor allem für seine Gabelstapler bekannt ist, entwickelte Zühlke eine Anwendung für Augmented Reality. Die Produktpalette von Jungheinrich wächst, während gleichzeitig ein eigenes Netz an Servicetechnikern immer neue Aufgaben lernen muss. Steht in Zukunft eine Reparatur eines Gabelstaplers an, kann ein Techniker eine Brille von Microsoft namens „Hololens“ aufsetzen. Anders als bei Virtual- Reality-Brillen sind damit nicht nur Projektionen, sondern gleichzeitig auch der reale Raum sichtbar. Dann projiziert die Brille Hologramme über die zu reparierenden Stellen und lässt sich per Sprache steuern. Der Techniker wird so Schritt für Schritt bei der Arbeit unterstützt.

DUNKLE SCHATTENSEITEN

Doch auch die dunklen Schattenseiten der schönen neuen digitalen Arbeitswelt sind unübersehbar. In einer Umfrage von Deloitte sehen Europas Manager den Mangel an qualifiziertem Personal als eines der größten Risiken an. Das Bildungssystem wird unter dem Druck der Wirtschaft immer weiter zum reinen Zulieferer der Produktion umgebaut, und trotzdem fehlen überall Fachkräfte. Auch ist es inzwischen sehr still geworden um die noch vor wenigen Jahren häufig zu hörende Einschätzung, die Zuwanderung von Geflüchteten sei eine Lösung für den Fachkräftemangel.

ABBAU VON ARBEITSPLÄTZEN FINDET SCHON STATT

Gleichzeitig wird ein weiteres zentrales Ziel der Digitalisierung immer stärker sichtbar: mit weniger Personal auszukommen und so die Kosten zu senken. Inzwischen bestreitet niemand mehr, dass die Automatisierung der Abläufe unzählige Menschen in die Arbeitslosigkeit schicken wird – wie viele genau, weiß niemand. Dafür würden neue Jobs entstehen, sagen Optimisten. Allerdings ist nicht jeder ein geborener Informatikingenieur. Und auch sonst nimmt die Entwicklung in der realen Welt gerade einen anderen Weg, als es die bunten Strategiepapiere glauben lassen wollen. In Österreich rechnen viele Firmen mit einem mehr oder weniger großen Stellenabbau, so eine vor wenigen Tagen veröffentlichte Studie der Boston Consulting Group. Wohin die Reise gehen kann, zeigt Volkswagen. Beim weltgrößten Autobauer entstehen derzeit 9000 Jobs rund um „Zukunftstechnologien“ – während gerade der Abbau von 30.000 Arbeitsplätzen vorbereitet wird. Wichtigster Grund dafür sei die Digitalisierung, so Konzernchef Herbert Diess auf der jüngsten großen Betriebsversammlung des Herstellers im März.