„Neue Normalität“ als schwarzer Sack?

Covid-19
10.03.2021

Stellen Sie sich vor, ein schwarzer Sack würde an Ihren Meetings teilnehmen oder durch Ihre Lieblingseinkaufsstraße spazieren. Wie würden Sie reagieren? Gut möglich, dass Sie sich mit der Zeit daran gewöhnen. Und dass das Absurde oder Unvorstellbare zur Normalität wird. So wie etwa Masken oder Baby-Elefanten in Covid-Zeiten „normal“ geworden sind. Welches Phänomen steckt dahinter und was können wir daraus lernen?

1967, Oregon University. In einem Hörsaal hat ein mysteriöser schwarzer Sack seinen Auftritt. Jeden Montag, Mittwoch und Freitag, pünktlich um 11 Uhr. Er ist stumm, aber offensichtlich steckt ein Mensch darunter, weil dessen nackte Füße zu sehen sind. Anfangs wird der seltsame Gast als lästiger Störenfried empfunden und die Studierenden fragen misstrauisch, was „der da“ soll. Aber Antworten bleiben aus. Dennoch gewöhnen sie sich im Laufe der Zeit an den ungewöhnlichen „Sackmenschen“, als hätte es schon immer dazugehört. Und die anfängliche (mitunter feindselige) Skepsis bzw. Ablehnung verwandelt sich in Neugier, schließlich sogar in Freundschaft.

Was sich dahinter verbirgt

„Black Bag Experiment“ nannte sich der ungewöhnliche Versuch, durchgeführt vom Sozialpsychologen Charles Götzinger. Damit belegte er, wie auch eine Reihe anderer Studien, den sogenannten „Mere-Exposure-Effekt“. Entdeckt wurde er vom US-Psychologen und Stanford-Professor Robert Zajonc. In der Sozialpsychologie wird dieser Effekt auch als Vertrautheitsprinzip bezeichnet. Denn er beschreibt ein Phänomen, bei dem Menschen dazu neigen, eine Vorliebe für Dinge zu entwickeln, nur weil sie mit ihnen vertraut(er) sind. Und allein die wiederholte Wahrnehmung hat ihre positivere Bewertung zur Folge. Auch lässt die Vertrautheit mit einem Menschen diesen attraktiver und sympathischer erscheinen.

Die Erkenntnis in den Alltags-Jargon übersetzt: Erst stört uns Neues, Ungewöhnliches und Unbekanntes, wir regen uns auf, echauffieren uns, ja lehnen es zuweilen heftig ab. Aber allmählich gewöhnen wir uns daran – bis es schließlich Teil einer „neuen Normalität“ wird. Kommt Ihnen das (gerade auch) in Covid-Zeiten bekannt vor? Noch im Frühjahr 2020 hielten Experten es für ausgeschlossen, dass die westliche Kultur das kollektive Maskentragen jemals zulässt. Sie hatten wohl nicht mit dem „Mere-Exposure-Effekt“ gerechnet.

Wie er sich zeigt

Einige Beispiele, wie sich der Mere-Exposure-Effekt in der Praxis bemerkbar macht.

  • Selbstwahrnehmung & Selbstbild: Im Spiegel erscheinen wir uns selbst tendenziell attraktiver als auf Fotos (außer auf retuschierten). Denn unser gespiegeltes Selbstbild wirkt auf uns vertrauter als das künstliche Foto-Abbild (sofern nicht Selfie-manisch daran gewöhnt). Und wir selbst nehmen unsere eigene Alterung weniger explizit wahr als jemand, dem wir längere Zeit nicht mehr begegnet sind. Verjüngende Komplimente hin oder her: Das Fremdbild altert schneller als das Selbstbild.
  • Kontakte & Beziehungen: Je mehr Kontakt Menschen miteinander haben, zufällig oder gewollt, desto wahrscheinlicher ist es, dass sie Freunde werden, jedenfalls einander trauen bzw. vertrauen. Auch im beruflichen Kontext. Ausnahmen bestätigen meist die Regel.  
  • Werbung & Marketing: Mehrmalige Wiederholungen einer Produktwerbung bzw. bekannter Botschaften führen auf Sicht dazu, dass bestimmte Produkte oder Dienstleistungen (auch unbewusst) positiver wahrgenommen und damit auch verstärkt nachgefragt werden.

Handelsriesen wie Amazon nutzen den Mere-Exposure-Effekt mit eigenen Produktauszeichnungen wie „Amazon’s Choice“. Sie suggerieren Besonderheit und exklusive Gelegenheit, konkurrieren dabei sogar mit bereits bekannten Symboliken wie „Bestseller”. Dass die smarte Assistentin Alexa fast immer automatisch ein Amazon's Choice Produkt empfiehlt, überrascht kaum. Der schwarze Sack lässt grüßen.

Die Moral von der Geschicht´

Durch die bloße Wiederholung von Botschaft, Angeboten etc. gewinnen diese also an Relevanz in unseren Köpfen und werden als positive Signale gewertet. Obige Beispiele kratzen nur an der Oberfläche des Mere-Exposure-Effektes. Aber dass er ein widersprüchlicher Geist ist und auch unterschwelligen Manipulationen Tür und Tor öffnet, liegt auf der Hand. Denn das Gehirn lässt sich mitunter akkurat korrumpieren – oder auch positiv stimulieren. Mit vielfältigen Chancen und Risiken.

So führt die Corona-Pandemie eindrücklich vor Augen, wie schnell wir uns an schwarze Säcke und weiße Filter im Gesicht gewöhnen. Die Chance: Das „neue Normal“ ist auch ein Abbild unserer Anpassungsfähigkeit an veränderte Bedingungen. Das Risiko: Ein „neues Normal“ kann – auch abseits von Pandemien & Co – dazu führen, dass wir dauerhaft auf Errungenschaften verzichten, um die einst hart gestritten wurde. Und dass wir immer weniger aufschreien, wenn sie nach und nach verschwinden. Weil wir es uns im Gewöhnungsmodus bequem eingerichtet haben. Oder gar zur „Verhausschweinung“ tendieren, wie sie einst Nobelpreisträger Konrad Lorenz beklagte.

Die Moral von der Geschicht´ – vergiss die „schwarzen Säcke“ nicht! Umso erhellender könnten Fragen sein wie: Wer oder was verbirgt sich hinter unseren „Black Bags“? Inwiefern boykottieren sie unsere Veränderungsvorhaben? Und inwiefern könnten sie diese beschleunigen? Überraschende Erkenntnisse nicht ausgeschlossen. Auch etwa in Bezug auf „pandemische Säcke“ wie Homeoffice, Distance Learning & Co. Apropos: Welchem „Sack“ (miss-)trauen Sie aktuell am ehesten? Und warum?