„Chill mal wieder!“

Schweifer
03.06.2014

Schneller, höher, weiter. So lautet nicht nur das olympische Gebot, sondern auch unser täglich Brot. Doch das stereotype Credo von Beschleunigung und Speed fordert seinen Tribut: zunehmende Erschöpfung und permanente Zeitnot. Und – was nun?

Beschleunigung und Zeitnot sind individuelle wie kollektive Phänomene, die zur belastenden Pandemie auszuufern scheinen. Denn das immer schneller drehende Hamsterrad entpuppt sich als wenig beglückend. Es taugt wohl auch nicht als sinnstiftende Karriere- oder Lebensleiter – weil auf Dauer ermüdend und frustrierend. Gleichzeitig wächst die Sehnsucht nach Ausgleich, nach Entschleunigung und Muße.

Denn was viele schmerzlich vermissen: Zeit für sich. Eine aktuelle IMAS-Umfrage bestätigt: Mehr Österreicher denn je erleben übermäßige Beschleunigung – und wollen das eigentlich nicht.

Zwischen Muße & Müssen
Unser Zeit-Verhältnis ist reichlich widersprüchlich. Denn die einen wollen sich keine Zeit für Muße leisten, weil sie viel und gerne arbeiten. Und die anderen können sich diese nicht leisten, weil sie so viel arbeiten müssen – etwa um finanziell zu überleben. Wiederum andere verfügen ungewollt über einen Überfluss an Muße und Zeit, weil sie durch Arbeitslosigkeit, Behinderung oder Krankheit zwangsentschleunigt sind.
Aber zumindest ein Teil der Jüngeren will die zugepflasterten Karrierewege der dauerbeschäftigten Eltern – und den Preis, den sie mitunter dafür zahlen – nicht weiter austreten. „Wie haben sie uns denn auch erlebt? Gehetzt, oft verzweifelt, geschieden und mit dem Handy auf dem Klo.“ So die ernüchternde Diagnose einer Journalistin in einem aktuellen Online-Magazin.

Kinder und Narren
...tun Zeit-Wahrheit kund. Kinder sagen unverblümt und mit entwaffnender Ehrlichkeit die Wahrheit. Weil ihnen Normen und Tabus der Erwachsenen noch fremd sind. Häufig treffen sie damit – oft komisch und irritierend zugleich – des Pudels harten Kern. Und konfrontieren uns zuweilen verstörend mit ungeschönter Wirklichkeit oder Widersprüchlichkeit.
So auch Samuel. Von ihrem kleinen Sohn bekam die Inhaberin einer Wiener Werbeagentur – laut Selbstzuschreibung meist verplant und auf Pünktlichkeit bedacht – mitten im Alltagsgetümmel zu hören: „Chill mal, Mama!“ Samuels Appell bringt ein virulentes Zeitdilemma auf den Punkt, mit dem wohl viele Erwachsene konfrontiert sind:
Hier die Vielzahl unterschiedlicher Bedürfnisse und Möglichkeiten, offeriert und suggeriert von der Multioptionsgesellschaft, die alle im knappen Zeitkorsett untergebracht werden wollen.
Dort das frustrierende Gefühl, dass sich kaum jemals alles ausgeht und immerzu ein „noch“ übrigbleibt. Dazwischen klafft ein immer größeres (Zeit-)Loch, in dem Wunsch und Wirklichkeit bedrohlich auseinander driften.

Und was nun?
Aber wie nun abbremsen und auf den Weg der Muße einschwenken, ohne aus den Spuren zu rutschen? Die allgemeingültige, richtige Antwort gibt es wohl nicht. Und um möglichen Missverständnissen vorzubeugen: Es geht keineswegs um eine generelle Verlangsamung. Das wäre weder zielführend noch realistisch. Es geht vielmehr um ein selektives Downspeeding. In diesem Sinne drei Anregungen, die ermutigen mögen.

  • [1] Innere wie äußere Hindernisse abklären –  um einen realistischen Rahmen identifizieren zu können, wo und wann beispielsweise ein Nein oder Pausen überhaupt Sinn machen/möglich sind. Gleichzeitig ist die innere Haltung wichtiger als die bloße Zahl sogenannter „freier“ Stunden. Denn letztlich hat Muße nichts mit Quantität, sondern mit Qualität der erlebten Zeit zu tun. Weniger Arbeitsstunden bedeuten ja noch lange nicht mehr Entschleunigung.

  • [2] Geduldiges Entüben einer Haltung, die suchtartig suggeriert, ständig etwas tun zu müssen: Das wäre quasi die tägliche „Pflichtübung“. Es auszuhalten, auch einmal nichts zu tun – ohne Angst, etwas zu versäumen: Das wäre die Kür. Zufriedenheit und Gelassenheit zu empfinden: Das wäre die krönende Königsdisziplin. Olympisches Gold. Muße-Meisterschaft.

  • [3] Um das je zu erreichen, sollten wir uns v.a. von zwei inflationären Zeit-Vernichtern nicht zu sehr vereinnahmen zu lassen: Erstens von der trügerischen Logik des Immer-Mehr. Und zweitens vom nicht minder trügerischen (Freiheits-)Versprechen der Multioptionsgesellschaft, alias Zuvielisation. Das probate Gegenmittel lautet: selektive Ignoranz

All das hat auch mit Selbstbestimmung und Selbstzuwendung zu tun. Wenn es gelingt, diese wenigstens rudimentär in den Alltag hinüber zu retten und zu pflegen, erhöht sich die Chance, dass sich die ersehnte innere Ruhe und Gelassenheit einstellen. Mit der Zeit.

Deshalb: „Chill mal wieder!“ Oder schlicht: „Gönn dir eine Pause!“ Rechtzeitig. Immer wieder. Nicht nur Samuel wird es freuen.