Barrieren im Denken
Nicht einmal jedes vierte dazu verpflichtete Unternehmen beschäftigt behinderte Mitarbeiter. Das liegt auch daran, dass über Arbeit mit Behinderung vielfach falsche Vorstellungen herrschen.

Text: Daniel Nutz
Sreco Dolanc steht an seinem Arbeitsplatz und macht, was alle anderen Apotheker auch machen. Er arbeitet im Labor, gibt Bestellungen auf und berät die Kundschaft. Wenn der 28-Jährige mit Stoppelglatze seinen Kunden an den Lippen hängt, versteht er sie auch blendend. Dolanc hört kein Wort, erfasst dennoch fast alles. Nur wenn das Gegenüber den Kopf zur Seite dreht oder seine Mundwinkel schlampig bewegt, verliert der Mann im weißen Apothekergewand den Anschluss. Dann kommt entweder eine Dolmetscherin zur Hilfe, welche die Kundenwünsche in Gebärdensprache übersetzt. Oder der junge Mann hilft sich selbst, indem er beispielsweise Block und Stift zur Hilfe nimmt. Dolanc ist der einzige gehörlose Apotheker Europas. Und wenn man ihm zusieht, fragt man sich wieso? Er erzählt so etwas wie eine Paradestory in Sachen Integration von Menschen mit Behinderung am Arbeitsmarkt. Eine Geschichte, die allerdings in der Realität die Ausnahme ist.
Behinderte Arbeitnehmer trifft die Krise härter
Behinderung und Erwerbstätigkeit erscheint auch heute noch als Widerspruch. Laut Sozialministerium sind derzeit 62.600 von insgesamt 97.000 „begünstigt Behinderten“ in aufrechten Beschäftigungsverhältnissen. Das entspricht einer Erwerbsquote von 64 Prozent. Deutlich weniger als der Bevölkerungsschnitt von 76 Prozent. Die Arbeitslosigkeit stieg nach AMS-Berechnungen in dieser Gruppe seit 2006 um mehr als 20 Prozent. Das, obwohl der Gesetzgeber alle Unternehmen eigentlich dazu verpflichtet, auf jeden 25. Mitarbeiter einen „begünstigt behinderten“ Menschen einzustellen. Demnach müssten eigentlich 17.000 Unternehmen zumindest eine Person mit Behinderung beschäftigen. Derzeit erfüllen aber nicht einmal 4.000 diese Pflicht. Der Rest enthebt sich durch die sogenannte Ausgleichstaxe davon: Diese liegt je nach Unternehmensgröße monatlich zwischen 242 und 364 Euro pro nicht eingestellten Mitarbeiter. Was ist los mit den Betrieben, wieso sind sie solche Muffel, wenn es um die Integration geht?
Mario Jursitzky kennt auf diese Frage eine Antwort. Der Hofrat im grauen Anzug befasst sich seit vielen Jahren für das Sozialministerium-Service, vormals Bundessozialamt, mit der Thematik. Ein Blick auf die Beschäftigungszahlen zeigt laut dem Experten klar: Integration am Arbeitsmarkt ist ein Schönwetterthema. „Läuft die Konjunktur gut und ist auch der Arbeitsmarkt ausgelastet, greifen Unternehmen vermehrt auf Menschen mit Behinderung zurück“, erklärt er. In Zeiten der Hochbeschäftigung kann man eben kaum über die Fachkräfte mit Behinderung hinwegsehen. In momentanen Flautezeiten scheuen vor allem Großunternehmen vor Personaleinstellungen zurück, erklärt Jursitzky. Ein Hauptgrund dafür ist auf Unternehmerseite noch immer die Sonderstellung begünstigter Behinderter, speziell in Sachen Kündigungsschutz. Nach einer Neuerung von 2012 gilt dieser allerdings erst nach vier Jahren. Dann muss der sogenannte Behindertenausschuss einer arbeitgeberseitigen Kündigung zustimmen. „Viele Unternehmen haben noch immer Angst davor, manche Mitarbeiter nie mehr loswerden zu können“, sagt Jursitzky. Dabei ist diese Angst weitestgehend unbegründet: 2012 wurden beispielsweise gerade einmal 21 Kündigungen vom Ausschuss abgelehnt. Also eigentlich kein Grund, sich durch die Ausgleichstaxe freikaufen zu müssen, zumal auch noch diverse Förderungen winken. Die öffentliche Hand übernimmt beispielsweise die Kosten für eine Adaptierung des Arbeitsplatzes oder gleicht mögliche Leistungsminderungen mit bis zu zwei Drittel der Lohnkosten aus. Finanziert werden diese Ausgaben hauptsächlich aus dem Ausgleichsfonds, in dem alle bei der Integration säumigen Unternehmen einzahlen. Warum reichen diese Anreize aber dennoch nicht aus, um die Mehrzahl der Betriebe zu überzeugen?
Das falsche Bild des Rollstuhlfahrers
Gerald Wippel ist tagtäglich mit Fragen der Integration von behinderten Menschen am Arbeitsplatz beschäftigt. Er arbeitet als Arbeitsassistent für den ÖZIV, die Interessenvertretung für Menschen mit Behinderung, und führt auch Beratung und Vorträge für Unternehmen durch. Er will aufklären und falsche Bilder aus den Köpfen bannen. Denn oft wird er mit Unwissenheit konfrontiert. „Viele, die Behinderung hören, denken an einen Rollstuhl“, sagt Wippel. Tatsächlich gehören chronische Erkrankungen wie beispielsweise Krebs, multiple Sklerose, Diabetes oder geistige Erkrankungen wie Autismus genauso zu den Ursachen, die zu einer Arbeitseinschränkung führen. Was das Arbeiten mit Behinderung wirklich bedeute, sei vielen Unternehmen nicht klar. „Die unterschiedlichen Formen der Behinderung werden zu oft zusammengeworfen, anstatt sie im konkreten Fall zu betrachten“, sagt Wippel. In der Mehrzahl der Fälle benötige es beispielsweise keine Anpassung des Arbeitsplatzes. Und auch die reduzierte Leistungsfähigkeit sei oft reiner Mythos.
Wenn aus dem Handicap Mehrwert wird
Zurück in der Wiener Marienapotheke. Über eingeschränkte Leistungsfähigkeit hat sich Geschäftsführerin Karin Simonitsch noch nie Gedanken gemacht. Simonitsch führt die Apotheke in dritter Generation. Daneben betreibt sie sie einen Arzneimittelgroßhandel und hat insgesamt 70 Mitarbeiter. „Klar, habe man als Apothekerin irgendwo ein Helfersyndrom“, sagt sie. „Aber in erster Linie bin ich Geschäftsfrau und muss auch Geld verdienen.“ Aber das sei kein Problem. Denn ihre wichtigste Botschaft ist: Die Integration von Menschen mit Behinderung lässt sich mit ihren Unternehmenszielen sehr gut verbinden. Simonitsch erzählt von einer Bereicherungen des ganzen Betriebsklimas.
Auch für sie sei der Anfang schwer gewesen, das Thema Arbeit mit Behinderung war weit weg. Wie viele andere KMU kam auch Simonitsch erst über eine Person aus dem eigenen Bekanntenkreis dazu, sich damit zu beschäftigen. Es entstand ein persönlicher Kontakt und schnell eine Vorstellung, wie eine Zusammenarbeit umzusetzen sei. Offensichtlich ist dieser zwischenmenschliche Austausch auch ein Grund, warum gerade KMU mehr Bereitschaft zur Integration zeigen als die bürokratischen Personalabteilungen von Großunternehmen. „Wenn man den Fall vor Augen hat, kann man auch die Vorteile so einer Beschäftigung sehen“, appelliert Simonitsch. In ihrem Fall heißt das etwa, dass sie den rund 6.000 Gehörlosen und extrem schwerhörenden Menschen der Stadt eine spezifische Beratung in Gebärdensprache anbieten kann. Ein schöner USP unter 300 Apotheken. Und damit nicht genug. Auch an anderer Stelle gelingt es in der Marienapotheke, aus vermeintlichen Behinderungen individuelle Fähigkeiten abzuleiten. Die verantwortungsvolle Aufgabe der korrekten Abfüllung von Medikamenten erledigt ein Mitarbeiter mit Asperger-Syndrom, einer Form von Autismus. Bei seiner computerunterstützten Arbeit sticht er nicht nur alle Kollegen aus – er ist auch schneller und fehlerfreier als die Maschine, die normalerweise für die Endkontrolle eingesetzt wird.