Vom Eifelkind zum Global Player

Weltmarktführer
15.05.2019

Prof. Herman Simon hat das Phänomen der Hidden Champions nicht nur eingehend untersucht, er hat auch selbst einen Weltmarktführer aufgebaut. Im Interview blickt der Pricing-Experte auf jene Stationen zurück, die ihn an diesen Punkt geführt haben.

Sie haben eine Unternehmensberatung mit 1300 Mitarbeitern aufgebaut, die heute weltweit führend im Bereich der Preisberatung ist. Ihre eigene Biografie führt von einem kleinen Dorf in der Eifel über eine universitäre Karriere zur Selbstständigkeit. Gab es Aspekte des einfachen, bäuerlichen Lebens Ihrer Kindheit, die für den späteren weltweiten Erfolg wesentlich waren?
Im Dorf meiner Kindheit gab es kaum Ablenkung, kein Fernsehen, keine Unterhaltungen – die Zeit verging sehr langsam. In meinem späteren Leben war ich immer unter Zeitdruck. Was ich in der Eifel für mein späteres Leben gelernt habe, ist Führung. Ich war der älteste einer Gruppe von sechs Jungen und damit der natürliche Anführer. Das hat mich sicher geprägt. Ich glaube heute, dass man Führung nicht theoretisch aus Büchern und Vorlesungen lernen kann, sondern nur durch das Tun.

Sie waren beim Militär in einer Fliegerstaffel. Welche Rolle hat das für Ihr Führungsverständnis gespielt?
Ich war 19 Jahre alt, als ich zur Luftwaffe kam. Dort gelangte ich in Führungssituationen, die es im zivilen Leben in dem Alter nicht gibt. Verschärft wurde die Situation, weil wir den Auftrag hatten, Atombomben auf Ziele jenseits des Eisernen Vorhanges zu werfen, falls es zum Krieg kommt. Als die Russen in die Tschechoslowakei einmarschiert sind, gab es NATOAlarm. Ich war 21, Offizier vom Dienst und musste 120 Leute mit scharfer Munition unter Kontrolle bringen, von denen die Hälfte zu dem Zeitpunkt kurz vor Mitternacht betrunken war. Das war für einen 21-Jährigen schon eine extreme Führungssituation. Da muss man sehen, wie man zurechtkommt, und das hat mich geprägt.

Sie waren lange Jahre im universitären Betrieb tätig und haben in den Bereichen Pricing und Marketing geforscht, bevor Sie vollständig in die Beratung und in die Wirtschaft gewechselt sind. Warum dieser Schritt?
Wollten Sie testen, wie viel in der Praxis an den Theorien dran ist? Da gibt es eine eindeutige Antwort: Der Großteil der Forschung war nicht praxisrelevant. Ich habe mich mit langfristigen Preisstrategien befasst und erforscht, wie man die Preisgestaltung über fünf oder zehn Jahre optimieren kann. Das macht man in der Praxis aber nicht. Man ist froh, wenn es für ein Jahr optimal passt. Das waren schon sehr akademische und rein theoretische Übungen.

Sie haben sich, als einer der Ersten, sehr systematisch mit dem Thema Preisgestaltung auseinandergesetzt. Mit welcher Ausrichtung?
Ich habe mich von den theoretisch orientierten Akademikern darin unterschieden, dass ich versucht habe, die Theorien empirisch zu testen. Ich wollte ökonometrische Methoden mit Daten, die ich von Henkel bekommen habe, testen. Da war ich Pionier, das hat vorher niemand für Preise gemacht. Selbst in den USA gab es da kaum etwas. Das hat mir dann auch die Türen zu den Top-Unis in den USA geöffnet. Und später ging es weiter. Wir haben praktische Entscheidungen mit wissenschaftlichen Methoden untermauert. Allerdings stand dabei die Praxis im Vordergrund, nicht die Wissenschaft. Von der Theorie zur angewandten Praxis habe ich 15 bis 20 Jahre gebraucht. Als wir mit den Beratungsprojekten in den 1980ern angefangen haben, habe ich nicht gedacht, dass so eine Sache daraus entstehen könnte.

Wenn man sich in einem globalen Umfeld bewegt, sollte man kulturell offen sein und sich anpassen können.

Hat sich die Praxisrelevanz der Wirtschaftswissenschaften seit damals nennenswert verbessert?
Wenn ich heute die Marketingwissenschaft betrachte, hat sie sich fast noch weiter von der Praxis entfernt, als sie es früher war. Die Methoden sind immer raffinierter geworden. Und die Fragestellungen sind immer spezieller und weniger relevant. Es wird mit gigantischen methodischen Kanonen auf winzige Spatzen geschossen. Vieles wird untersucht, aber die wirklich schwierigeren Fragen nicht. Der Gewinn etwa. Man weiß eigentlich nicht, was zu Gewinn führt. Vielleicht kann man es auch nicht wissen.

Wieso nicht?
Wenn eine Formel bekannt wäre, würde jeder damit arbeiten und dann würde sie sich ad absurdum führen. Das gilt auch für Führung: Keiner weiß, was Führung ist. Wir wissen nicht, warum Leute bestimmten Menschen folgen und anderen nicht. Das ist eine Herausforderung für die Wissenschaft.

Glauben Sie, dass durch die Digitalisierung und die enormen vorhandenen Datenmengen manche Fragen gelöst werden können?
Ich habe nicht den Eindruck, dass sich durch Big Data alles ändert. Ich habe über Jahrzehnte mehrere Hundert Bücher bei Amazon bestellt. Ich habe aber nie eines bestellt, das sie mir empfohlen haben. Dagegen habe ich viele Bücher bestellt, die in der Frankfurter Allgemeinen rezensiert wurden. Die FAZ ist näher dran, obwohl sie nichts von mir weiß.

Alle Mitgründer von Simon, Kucher & Partners stammen aus dem Wissenschaftsbetrieb. Wie wirkt sich das im Unternehmen aus?
Wir haben sehr viele intelligente Leute. Wir sind mit der Absicht angetreten, Daten zu analysieren und Entscheidungsempfehlungen abzuleiten. Dazu wollten wir vor allem ökonometrische Methoden einsetzen. Aber es hat sich herausgestellt, dass die Analyse von Daten aus der Vergangenheit wenig bringt. Von 10.000 Projekten basierten keine hundert auf ökonometrischen Daten.

Warum nicht?
Weil wir immer gerufen werden, wenn sich etwas ändert. Ein neues Produkt, ein neuer Konkurrent, das Internet kommt als Vertriebskanal. Wir kommen typischerweise in Situationen, in denen historische Daten ihren Wert verlieren. Damit mussten wir umgehen, aber die Werkzeuge, welche die Wissenschaft entwickelte, haben uns befähigt, neue Daten zu generieren. Durch Befragungen, Tests und so weiter. Die wissenschaftliche Erfahrung, die unsere Berater hatten, war nicht wertlos, sie wurde einfach anders eingesetzt. Das ist die Aufgabe einer anspruchsvollen Ausbildung: denken lernen und die Fähigkeit, sich neue Methoden anzueignen.

Sie haben heute 1300 Mitarbeiter. Setzen Sie immer noch auf Wissenschaftler?
Wir haben mindesten zehn Prozent promovierte Mitarbeiter. Auch in den USA. Und da ist das außergewöhnlich. Dort macht man das Doktorat nur für eine Wissenschaftskarriere. Wir setzen also nach wie vor auf einen starken wissenschaftlichen Input bei unserer Beratung.

Sie selbst haben in verschiedenen Ländern gelebt. Welche Erkenntnisse hat das für das Verständnis von Hidden Champions gebracht?
Was war besonders relevant für ihr Business? Wenn man sich in einem globalen Umfeld bewegt, sollte man kulturell offen sein und sich anpassen können. Diese Fähigkeit habe ich durch meine Stationen im Ausland erworben. Ein Beispiel: Ich esse alles, was in China auf den Tisch kommt: Augen von Schafen, Gänsefüße. Mir ist nie schlecht geworden. Da muss man schon ein bisschen flexibel sein. Diesbezüglich die wichtigste Lehre gab es während einer Gastprofessur in Japan. Ich habe dort gelernt, dass man eine Gesellschaft auch völlig anders organisieren kann – und dass sie trotzdem funktioniert. Ich habe viele Büche über Japan gelesen, man lernt die Realität aber nur kennen, wenn man dort lebt. Es gibt keinen Ersatz für Auslandsaufenthalte.

Ihr Leben scheint von Begegnungen mit vielen außergewöhnlichen Persönlichkeiten geprägt zu sein. Darunter Größen wie Peter Drucker, aber auch Politiker und Topvorstände. Haben diese Menschen Sie inspiriert und angespornt?
Dieser Aspekt ist der interessanteste an beiden Berufen. Ich habe in der Wissenschaft viele spannende Persönlichkeiten und Nobelpreisträger kennengelernt und als Berater Leute aus Wirtschaft und Politik. Solche Menschen zu treffen ist mitunter sogar interessanter als die Themen, die man bearbeitet. Wobei es nicht so viele gibt, die mich wirklich nachhaltig beeindruckt haben, bei denen man nach 20 Jahren noch sagt: Der oder die war jemand Besonderer. Die meisten Eindrücke sind doch verblichen. Es gibt auch Personen, bei denen ich mehr erwartet hatte und enttäuscht wird. Das passierte oft bei Politikern.

Welche Aspekte ihrer Biografie haben im Wesentlichen dazu geführt, dass Sie ein so großes Unternehmen aufgebaut haben?
Wesentlich war sicher das Gründungsteam. Die vier ersten Doktoranden sind an Bord gekommen und haben ihr ganzes Leben hier gearbeitet. Kontinuität und Kompetenz sind extrem wichtig. Zentral war zudem die Strategie, von den Hidden Champions zu lernen. Sie haben die Ambition, die Besten zu sein, sie fokussieren sich und setzen auf Globalisierung! Diese Ambition und dieser Fokus bildeten die Basis für unseren eigenen Erfolg. Wir hätten auch nur im DACH-Raum bleiben können, dann hätten wir heute 150 Leute und so haben wir 1300. Wenn man wachsen will, muss man globalisieren. Es braucht die personelle Kompetenz und die Strategie.

Glauben Sie, dass sich Ihre Karriere und der Aufbau des Unternehmens heute wiederholen lassen würden?
Nur dann, wenn einer zwei Voraussetzungen erfüllt: Er braucht eine Kompetenz und eine Nische, die sich entsprechend entwickelt. Aber das weiß man im Voraus nie. Vielversprechende Nischen dürfte es heute vor allem in der Digitalisierung und generell im Internet geben. Themen, die heute exotisch sind, werden in 30 Jahren ein substanzielles Geschäft hergeben. Aber welche Themen das genau sind, weiß ich auch nicht.