Wir sind nicht London

Johannes Kopf
12.02.2020

Warum Österreich für Google-Boys nicht attraktiv ist, wie sich der Kampf gegen den Klimawandel auf den Arbeitsmarkt auswirkt und wie die Wirtschaft von der Migration profitiert – ein Gespräch mit AMS-Chef Johannes Kopf über aktuelle Herausforderungen.

Wie sich die Wirtschaft heuer entwickelt, hängt sicherlich auch davon ab, ob Unternehmen ausreichend Fachkräfte finden. Wie optimistisch blicken Sie auf das Jahr 2020? Wir stehen vor einer Abschwächung der Konjunktur nach drei Jahren mit einer sehr guten Entwicklung. Die Entwicklung am Arbeitsmarkt war auch 2019 durchaus positiv. Heuer müssen wir aber wieder mit einem moderaten Anstieg der Arbeitslosigkeit rechnen.

Wo liegen die Treiber dieser Entwicklung? Die Wirtschaft und damit die Beschäftigung wächst einfach nicht mehr so stark wie das steigende Arbeitskräfteangebot. Wir gehen davon aus, dass die Arbeitslosigkeit heuer um zwischen 5.000 und 10.000 Personen steigen wird. Die Entwicklung der nächsten Zeit ist aber auch vom Wetter abhängig. Wenn Schnee im Tal liegt, kann man nicht bauen, und wenn Föhn am Berg ist, nicht Ski fahren, was den Tourismus massiv betrifft.

Sorgt eine schwächere Konjunktur für eine Entspannung bei der Suche nach Fachkräften? Leider kaum. Auch wenn die Arbeitslosigkeit steigt, wird der Fachkräftemangel nicht verschwinden. Er entspannt sich zwar gerade ein wenig in der Industrie, der es nicht mehr so gutgeht und wo dadurch weniger Leute gebraucht werden. In anderen Bereichen wie Bau und Tourismus ist er aber noch voll da. Dort läuft es hervorragend. Wir gehen davon aus, dass die Wirtschaft heuer 1,2 bis 1,3 Prozent wachsen wird.

Stichwort: Mangelqualifikation. Wo brennt es denn gerade ganz besonders? Zum Beispiel bei den IT-Kräften. Ihr Fehlen bremst nach wie vor das Wachstum, weil es Investitionen hemmt. Wenn man die Fachleute nicht hat, kann man gewisse Umstellungen nicht machen. IT-Fachkräfte sind auch wesentlich für die Standortattraktivität. Allerdings fehlen sie nicht nur bei uns, sondern überall. Es werden einfach mehr gebraucht als ausgebildet. Ein Problem ist auch das Gefälle zwischen Ost und West. Wir haben viele Arbeitssuchende in und um Wien und viele offene Stellen vor allem in Tirol, Oberösterreich und der Steiermark.

„Auch wenn die Arbeitslosigkeit steigt, wird der Fachkräftemangel nicht verschwinden.“

Um den Klimawandel einzudämmen, wurde die Autoindustrie mit hohen Auflagen belegt, die bereits jetzt Jobs kosten. Wagen Sie eine Prognose, ob die ökologischen Bemühungen der Europäischen Union mehr Arbeitsplätze schaffen oder mehr zerstören werden? Wenn sie den Klimaschutz ernst nimmt, wird die Politik auch Bereiche verteuern oder verbieten, wo heute noch viele Leute arbeiten. Man denke an Flugreisen oder den Individualverkehr. Der politische Wunsch ist eindeutig da, umweltschädliches Verhalten zu reduzieren. Wir werden sehen, wie stark das kommt. Aber Magna hat schon öffentlich überlegt, die Produktion zu verlagern, falls CO2-Abgaben kommen. Es kann also durchaus kurzfristig Einbußen geben. Mittelfristig glaube ich es aber nicht.

Lassen sich jene, deren Jobs verlorengehen, umschulen? Produktionsarbeiter, die bislang Verbrennungsmotoren gebaut haben, kann man wahrscheinlich auf E-Motoren schulen. Aber: Es gibt eine Reihe von Bereichen, wo das nicht geht. Denn Jobs entstehen zum Teil ganz woanders.

Haben Sie ein Beispiel dafür? E-Autos haben geringere Wartungsintervalle, also werden weniger Mechaniker gebraucht. Wenn neue Jobs im Bereich Umweltrecycling entstehen, bringt das arbeitslosen Mechanikern nur wenig.

Sie rechnen also mit mehr Verlierern in den nächsten Jahren? Kurzfristig wird die Entwicklung Verlierer produzieren. Langfristig wird sie uns aber weiterbringen, auch weil wir unseren Planeten retten. Digitalisierung und Automatisierung führen dazu, dass die Personalkomponente bei der Produktion geringer wird. Deswegen wird es Rückverlagerungen aus Asien nach Europa geben. Weil wir hier die Qualifikationen haben und weil die Personalkosten dann nicht mehr so relevant sind. Es wird also vor allem im asiatischen Raum Verlierer geben. Ich sehe hier auch eine andere Herausforderung für Europa.

Welche? Geplant ist ein europäischer Fonds, um zum Beispiel die Besitzer von Kohlekraftwerken zu entschädigen, wenn man ihnen ihr Geschäft verbietet. Man muss sich aber auch Gedanken über die Leute machen, die dort arbeiten. Arbeitsmarktpolitik wird ganz wesentlich sein, um den Kampf gegen den Klimawandel sozial verträglich zu gestalten.

Zum Klimawandel kommt auch immer stärker die Digitalisierung. Welche Auswirkungen hat die Entwicklung aus Ihrer Sicht auf den Arbeitsmarkt? Alle großen Trends wie Globalisierung, Ökologisierung, Digitalisierung oder Internationalisierung bewirken, dass die Anforderungen an Beschäftigte höher werden. Sehr genau haben wir uns 2019 mit über 100 Unternehmen angesehen, was denn eigentlich die digitalen Skills sind, die gebraucht werden.

Was kam dabei heraus? Überraschend war, dass eine Reihe von Qualifikationen, die man wegen der Digitalisierung braucht, analoge Fähigkeiten sind.

Haben Sie ein Beispiel? Eine Rezeptionistin braucht heute digitale Skills, weil sie auch die Buchungsplattformen bedienen muss. Sie ist aber auch oft für Bewertungsplattformen zuständig. Jemand schreibt, dass sein Zimmer schmutzig war, und darauf muss sie unmittelbar reagieren. Dafür muss sie texten können. Das musste sie bislang nicht in dieser Qualität. Durch die Allergenverordnungen und Hygienestandards benötigt auch das Küchenhilfspersonal heute mehr Lesekompetenz.

Es fehlen uns also nicht von der einen Qualifikation viele Kräfte, es geht mehr darum, digitale Skills mit den analogen zu verbinden? Die Digitalisierung stellt alle möglichen Bereiche vor große Herausforderungen. Sie ist auch ein Führungskräftethema, in vielen Unternehmen sind die Digitalisierungsunkundigen und -unwilligen in leitenden Funktionen. Und wie gesagt, der Fachkräftemangel bleibt ein Thema.

Ist gezielte Zuwanderung aus Ihrer Sicht ein geeignetes Mittel, um den Arbeitskräftebedarf zu decken? Aus der EU können wir viele Menschen nach Österreich holen. Für Menschen aus Drittstaaten wie Indien und China haben wir aber extreme Startnachteile.

Warum? Weil uns die Menschen in diesen Ländern nicht kennen, weil wir international gesehen klein und unbedeutend sind. Auch in unseren Möglichkeiten. Deutschland hat sich sehr professionell auf den Fachkräftemangel vorbereitet. Sie haben zum Beispiel mit China Vereinbarungen, dass dort nach deutscher Berufsordnung Mechaniker ausgebildet werden können. Da reden wir von Berufsschulen mit 10.000 Schülern, die bei den deutschen Autobauern vor Ort ausgebildet werden, um später einmal nach Deutschland zu kommen. Da kommen wir nicht mit.

“Für Integration muss man Geld in die Hand nehmen.

Haben wir zumindest eine Chance, einzelne echte Spitzenleute aus Drittstaaten zu holen? Für die Google-Boys sind wir nicht attraktiv. Wir sind nicht London. Selbst wenn man eine tolle Firma in Österreich hat und so jemand herziehen würde, könnte er nirgendwo hin wechseln. Es gibt, so weit ich weiß, keine Google-, Amazon- oder Apple-Entwicklungsabteilung in Österreich.

Was kann Österreich denn mit seinen Mitteln tun? Natürlich haben wir auch Initiativen, aber nichts in der Größenordnung. Wir bemühen uns mit der Rot-Weiß-Rot-Card. Da ist jeder Einzelne wichtig, aber wir reden von 3.500 Personen im letzten Jahr. Das ist sehr wenig, trotz aller Bemühungen. Aus dem EU-Raum sind im Vergleich zehntausende Menschen gekommen. Fachkräftezuwanderung nach Österreich funktioniert also vorwiegend aus der EU, aus Ungarn, Rumänien und Deutschland. Wir sollten also weiter im EU-Raum suchen.

Kroatien erhält jetzt vollen Zugang zum europäischen Arbeitsmarkt. Ist das eine Chance für Österreich? Auf alle Fälle. Es werden vermutlich 10.000 Personen zusätzlich kommen. Aber wir dürfen nicht vergessen, dass es sich auf die gesamte europäische Wirtschaft auswirkt, wenn ganze Länder nun demografische Probleme und Fachkräftemangel aufweisen.

Sie sprechen von Osteuropa? Ja, ich bin seit einem halben Jahr auch Vorsitzender des Netzwerks europäischer Arbeitsmarkverwaltungen und beschäftige ich mich deshalb viel mit Europa. Die demografische Situation von manchen Ländern in Osteuropa ist katastrophal. Der Anteil der Jugend ist in sieben Staaten innerhalb von zehn Jahren um 25 Prozent zurückgegangen, in Lettland sogar um 46 Prozent. Jeder zweite Jugendlich ist dort weg. Es gibt Regionen in Osteuropa, wo keine Jungen mehr sind. Da leben nur noch die Alten. Bis zu vier Millionen Polen sind weg, das waren die jungen, gut qualifizierten. Diese Probleme sind keine rein nationalen. Das müssen europäische Themen sein.

Wie gut funktioniert insgesamt die Integration von Migranten in den heimischen Arbeitsmarkt? Die alte Idee, dass Gastarbeiter wieder heimgehen und hier nur arbeiten sollen, funktioniert nicht. Die Menschen und ihre Familien bleiben da. Bei den Geflüchteten, die wir mit großem Aufwand integriert haben, weil so viele gekommen sind, hat man gesehen, was getan werden muss. Und welche Angebote es braucht.

Die Arbeitslosenzahlen der Asylberechtigten sind allerdings relativ hoch. Das dauert noch. Aber die Integration der Syrer und Afghanen funktioniert trotzdem ungleich besser als die der Tschetschenen damals. Um die hat sich kaum wer gekümmert, auch weil es weniger waren. Integration hat auch mit der Bildung der Kinder zu tun. Wir bemühen uns daher intensiv um die geflüchteten Frauen, weil der Weg zur Integration der Kinder über die Mütter geht. Und ja, für Integration muss man Geld in die Hand nehmen.

Arbeitsmarktpolitik ist also Integrationspolitik? In diesem Fall schon, weil man sonst die Arbeitslosen der Zukunft produziert, die nur einen Pflichtschulabschluss erreichen. Das hat auch mit Durchmischung zu tun. Wo man sie ansiedelt und integriert.

Muss Österreich hier seine Haltung zur Migration im Hinblick auf den Arbeitsmarkt ändern? Wozu raten Sie? Es gibt eine politische Strömung, die der Meinung ist, dass man es ihnen nicht zu attraktiv machen darf. Um nicht einen Pull- Effekt für weitere zu schaffen. Und dann gibt es jene, die davon ausgehen, dass mangelnde Integration ungleich teurer ist. Auch demokratiepolitisch. Extrembeispiel: Terrorismus. Ich glaube, für unsere Gesellschaft ist es unabhängig von der sozialen Frage auch ökonomisch sinnvoll, diese Menschen zu integrieren. Und dafür muss man die ersten Jahre Geld ausgeben.

Was wünschen Sie sich diesbezüglich von der neuen Regierung? Ich sehe im Regierungsprogramm, dass das Thema Integration eine größere Bedeutung hat als im letzten Programm. Und das halte ich für richtig. Wir sind im Bereich der Arbeitsmarktintegration der Geflüchteten gut unterwegs, aber noch nicht am Ziel. Von jenen Menschen, die 2015 Asyl bekommen haben und sich beim AMS gemeldet haben, ist mittlerweile jeder Zweite in Beschäftigung.