„Wir müssen uns nur vom Ballast befreien“

Christoph Badelt
14.11.2016

Wieso das Wifo weder rot noch schwarz ist, man das Thema Klimawandel nicht den Umweltpredigern überlassen darf, und warum man den Euro nicht krank reden sollte, erklärt der neue Wifo-Chef Christoph Badelt im Interview.
Sieht die Aufgabe von Prognosen darin, Maßnahmen auszulösen, die ihr Eintreffen verhindern: Wifo-Chef Christoph Badelt.

Sie haben die WU in eine neue Phase und auf den Campus geführt. Wo werden sie denn das Wifo hinführen?
Ich glaube, dass das Wifo bereits auf einem sehr guten Weg ist. Wir müssen uns nur noch stärker den großen, gesellschaftlichen Themen widmen und diese auch in einem integrierten sozialen und ökonomischen Sinn betrachten.

Unterscheidet Sie dieser Ansatz von Ihrem Vorgänger? 
Mein Vorgänger hat das Institut ausgezeichnet geführt. Aber unterschiedliche Zeiten verlangen nach unterschiedlichen Schwerpunkten. Wir stehen jetzt vor einer Situation, in der wir mit relativ niedrigen Wachstumsraten und großen ökologischen und sozialen Herausforderungen konfrontiert sind. Auf dieses Dreieck müssen wir uns konzentrieren.

Wie hoch ist der Anteil der Forschung, die das Wifo losgelöst von konkreten Aufträgen durchführen kann?
Wir haben im Augenblick etwa 60 Prozent Grundlagenfinanzierung und 40 Prozent Auftragsfinanzierung. Allerdings wird diese  Grundfinanzierung auch als Finanzierung der öffentlichen Güter verstanden, die wir herstellen. Etwa der Konjunkturprognosen und der Mittelfristprognosen. Wir liefern verschiedenste Formen der wirtschaftspolitischen Beratung, sowohl der Regierung als auch für andere Trägerorganisationen. Ich muss sagen, dass wir mit diesen öffentlichen Gütern schon ziemlich ausgelastet sind.

Wer sind denn die wichtigsten Kunden des Wifo?
Unsere Kunden sind eigentlich alle Menschen, die an Wirtschaft interessiert sind und die in der Wirtschaft Entscheidungen treffen. Wir müssen uns natürlich auch um unsere Finanziers kümmern, aber es ist schön, dass wir diese öffentliche Aufgabe auch haben. Und gerade in der jetzigen Zeit, in der wirtschaftliche Fachfragen durch Populismus völlig verzerrt werden, ist es wichtig, im Wifo eine Stimme zu haben, die sachbezogene Informationen herausgibt.

Wie exakt können heute, bei so vielen Variablen und Unsicherheiten, Prognosen überhaupt sein? 
Wirtschaftsprognosen können und sollen nie ganz exakt sein. Denn es ist ja oft die Aufgabe von Prognosen, Maßnahmen auszulösen, die das Eintreffen der Prognose verhindern. Man muss diese Ambivalenz also mitdenken. Die häufig gezeigte Zahlengläubigkeit hinsichtlich ein paar Zehntelprozentpunkten mehr oder weniger bei der Konjunkturprognose hebt sich davon ab, was man seriöserweise vorhersagen kann. Auf das kommt es aber auch nur in seltenen Fällen an. Eines muss man natürlich auch klar ansprechen: Es gibt viele wirtschaftspolitisch relevante Themen, bei denen es keine objektive Wahrheit gibt. Da sucht sich jeder die Zahlen, die ihm passen, und dann bricht der Zahlenkrieg los.

Hand aufs Herz: Ist es immer sinnvoll, wenn sich Politik und Manager hinter Zahlen verstecken?
Es ist sicherlich besser, faktenbasierte Entscheidungen zu treffen. Wir merken ja auch häufig, dass in der politischen Entscheidungsfindung rational nicht begründbare Gefühle eine Rolle spielen. Bei den Unternehmen hängt die Art der Entscheidungsfindung stark von den Eigentumsverhältnissen ab. Ein Manager, der einem Aufsichtsrat verantwortlich ist, muss sich besser absichern. Ein Eigentümerunternehmer kann tun, was er will und seinem Gefühl stärker vertrauen. 

Wifo und IHS bekommen ja laufend neue Konkurrenten. Ist das gut für das Metier oder sorgen die Studien der diversen Institute nur für Futter im politischen Kleinkrieg?
Ich würde da zwischen Forschungs- und Lobbyinginstituten unterscheiden. Auch Thinktanks, die in eine politische Richtung forschen, spielen in Österreich durchaus eine Rolle. Die Arbeiterkammer forscht zum Beispiel sicher im Sinne der SPÖ. Das finde ich auch gut, denn es bereichert die Diskussion. Aber man sollte bei Aussagen differenzieren, ob sie auf seriöser Forschung beruhen oder ob sie aus einem Umfeld kommen, wo man weiß, in welche Richtung argumentiert wird.   

Traditionell gilt ja das Wifo als rot, das IHS als schwarz. Sie schreibt man eher dem bürgerlichen Lager zu. Sind diese ­Rollenbilder noch zulässig?
Sie sind aktuell einfach falsch. Sowohl beim IHS als auch bei uns. Es hat in der Geschichte der Institute Zuschreibungen gegeben, die vielleicht sogar ihre Berechtigung hatten. Aber im Augenblick treffen sie sicher nicht zu. Ich kann darauf hinweisen, dass vom Haus und von mir persönlich Positionen öffentlich gemacht worden sind, die sehr konträr zu den Positionen der ÖVP und auch zur SPÖ waren. Das ist ein eindeutiger Beweis. Es ist auch nicht sehr wahrscheinlich, dass seriöse empirische Arbeit automatisch einem politischen Lager hinsichtlich der Ergebnisse zuzurechnen ist. 

Einer Ihrer Schwerpunkte ist die Sozialwirtschaft. Sehen Sie einen Engpass auf uns zukommen, wenn sich die Wirtschaft nicht entsprechend entwickelt und wächst? Denn die sozialen und ökologischen Herausforderungen wachsen definitiv. 
Das ist die zentrale Herausforderung für die Politik. Wir müssen mit der Abgabenbelastung herunter, denn wir sind in der Gefahr, die Wettbewerbsfähigkeit zu verlieren. Wir müssen mit den Schulden herunterkommen, denn wenn einmal die Nullzinsphase vorbei ist, würden die Schulden den Spielraum für die Wirtschaftspolitik viel zu sehr belasten. Und wir müssen einsehen, dass steigende Ausgaben nötig sein werden, um soziale Probleme zu lösen. Für mich kann daher die Lösung nur darin liegen, dass der Staat massiv in seine jetzige Ausgabenstruktur hineinschaut und prüft, wo man sparen kann, ohne dass die Problemfelder vernachlässigt werden. Das ist allerdings nicht neu, was ich hier sage. 

Aber es klingt ein wenig nach der Quadratur des Kreises. 
Das ist es nur in einer Hinsicht: Es braucht eine Regierung und einen Finanzminister, die imstande sind, die herrschenden Interessenstrukturen im politischen System zu sprengen, die immer alle Reformen verhindern. Die Parteien müssten von Menschen geführt werden, die wirklich gut verankert sind in ihrer eigenen Fraktion. Da muss ein Vertrauensverhältnis her und der Wille, ein paar Jahre konstruktiv zusammenzuarbeiten. Zeit zum Differenzieren ist dann vor den Wahlen immer noch. 

Sie haben unlängst bei einer Pressekonferenz gesagt: „Wir müssen uns an ein bescheidenes Wachstum und leider auch an hohe Arbeitslosenraten gewöhnen.“ Müssen wir der Tatsache ins Auge sehen, dass die fetten Jahre unwiederbringlich vorbei sind und man einfach nicht mehr jede Gruppe zufriedenstellen kann?
Man kann sicher nicht alle Wünsche erfüllen, aber ich bin durchaus optimistisch, dass die Dinge besser werden können. Wir müssen uns nur vom Ballast befreien.

Aber kann es wieder so gut werden, wie es war – vor der Krise?
Sind Sie so sicher, dass vor der Krise alle Dinge wirklich so gut waren? Ich glaube, es wird einfach anders sein. Sicher, es gibt gewisse ökonomische Indikatoren, wo man vergleicht, ob wir das Vorkrisenniveau erreicht haben oder nicht. Beim BIP haben wir es erreicht. Ich denke aber, dass der Vergleich mit einer seligen Vergangenheit nicht der richtige Zugang ist. Ich bin davon überzeugt, dass wir die Lebenssituation der Menschen verbessern können und dass wir auch die herankommenden sozialen und ökonomischen Probleme zumindest so meistern können, dass sie nicht zur Katastrophe ausarten. Aber das Klima und die soziale Desintegration sind extreme Herausforderungen.  

Wo sehen Sie denn, losgelöst von allen negativen Entwicklungen, Hoffnungsschimmer?
In Österreich läuft die Entwicklung der Wirtschaft sehr gut, trotz der nicht getroffenen politischen Entscheidungen. In der heimischen Wirtschaft steckt eine große Kraft. Auch wenn wir momentan in der Populismusfalle stecken, gibt es enormes Potenzial in der Bevölkerung zusammenzustehen, wenn es wirklich um etwas geht. Es ist immer noch die gleiche Bevölkerung, die 2015 ein großes zivilgesellschaftliches Engagement gezeigt hat. Auch wenn heute die Stimmung ins Gegenteil umgeschlagen zu sein scheint. Auch durch entsprechendes Hetzen. Hinter der nörgelnden Oberfläche der Österreicher steckt viel Kraft, die Dinge anzupacken. Und das Potenzial sehe ich auch bei der Jugend.  

Sie haben sich dafür stark gemacht, „Beyond-GDP“-Indikatoren in den Fokus zu rücken. Warum? 
Ich habe sie ins Spiel gebracht, weil ich glaube, dass eine breitere Sicht der Dinge wichtig ist. Eine Sicht, die nicht nur die Wirtschaft, sondern auch die soziale Kohäsion und die Umwelt einschließt. Wenn wir Diagnosen über den Zustand der Gesellschaft machen, müssen wir automatisch alle drei Bereiche anschauen. 

Wie wird das angenommen? 
Bei den realen politischen Entscheidungen ist es noch nicht voll durchgedrungen, sondern läuft unter „nice to have“. Denken Sie einfach an das Pariser Abkommen. Das ist nicht so weit weg, was wir uns da vorgenommen haben. Und seit dem Beschluss vor einem Dreivierteljahr ist mir nicht aufgefallen, dass jemand gesagt hätte, wie wir die Umsetzung angehen. 

Weil es zahnlos ist.
Stimmt, es ist nicht einklagbar und formuliert Zielvorstellungen. Jetzt kann man sagen, das ist zu wenig. Aber die USA oder China haben das zumindest einmal ratifiziert. Das sind positive, wenn auch sehr langsame politische Prozesse. 

Allerdings diskutieren wir hier in Europa sehr viel über Details, anstatt uns auf die Regionen zu konzentrieren, die vom Klimawandel massiv betroffen sind und sein werden und wo man mit demselben Mitteleinsatz ein Vielfaches erreichen könnte. 
Das liegt daran, dass es so weit weg ist, zeitlich als auch regional. Wenn es dann in Afrika um ein paar Grad wärmer wird und wirklich alle vor der Tür stehen, sind wir überfordert. Der Zusammenhang zwischen Klimaveränderungen und Migration ist massiv. Das betrifft Afrika, aber auch manche Nahoststaaten. Und wir werden es nicht lösen, indem wir in der Wachau Rotwein anbauen. 

Die europäische Politik reagiert sehr stark mit einem Angstreflex. 
Die Panik ist groß. Niemand fühlt sich zuständig. Wenn man in einer gesellschaftlichen Position ist, wie ich das bin, kann man nichts anderes machen, als Lösungen aufzuzeigen. Gerade bei Energie und Klima geht es darum, die Themen von den hauptberuflichen Umweltpredigern wegzubekommen. Die haben wir, und die finden ihr Publikum, aber das ändert nichts. Darin liegt auch der Grund, warum wir mit den Beyond-GDP-Indikatoren anfangen. Damit das sickert. Das Schlimmste ist, wenn man bei den politischen Entscheidungsträgern den Ruf bekommt, ein naiver Grüner zu sein, um den man sich nicht zu kümmern braucht. Dann hat man verloren. 

Ein Mann, der durchaus hohe Anerkennung genießt, ist der Nobelpreisträger Joseph Stiglitz. Er sagt, den Euro werde es in zehn Jahren zwar noch geben – aber er werde keine 19 Mitglieder mehr haben. Und er hält einen Austritt Italiens für re­alistisch. Teilen Sie seine Meinung? 
Nicht auf diese naive Weise. Stiglitz hat als Nobelpreisträger die Fähigkeit, irgendwelche politischen Statements abzugeben, die dann jeder für die Wahrheit hält. Natürlich haben wir Schuldenprobleme auch in Ländern, die bislang nicht so im Fokus standen. Aber man muss schon eines sagen: Der Euro ist eine stabile und seriöse Währung. Wir hatten in Griechenland, Irland und Portugal eher Probleme was die Defizite und die Wirtschaftskraft betrifft. Das ist jetzt auch bei Italien ein Thema. Es stimmt: Wenn es keine Währungsunion gäbe, könnten einzelne Länder einfache Lösungen durch Währungsabwertungen erreichen, aber auch mit den sozialen Kosten. Ich würde also den Euro nicht krank reden. Das ist das Letzte, was gescheit ist. Aber man muss auch die ökonomischen Reformen angehen. 

Wenn wir an den Brexit denken und an die Diskussionen rund um Ceta kann man einen neuen Protektionismus beobachten. Wie beurteilen Sie diese Entwicklung?
Zu glauben, wir kämen weiter, wenn wir uns einigeln, ist absurd. Wir können zwar jetzt aufgrund technologischer Veränderungen leichter lokal produzieren. Aber grundsätzlich ist die Technologie so, dass wir weltweit denken und auch die Probleme sind globaler Natur. 

Erstellt das Wifo aktiv Studien, die für das Projekt Europa Stimmung machen?
Wir haben als Forschungsinstitut keine politische Agenda, aber unsere Aussagen zu Europa wirken auch politisch, weil die ökonomischen und die sozialen Argumente ganz, ganz deutlich für ­Europa sprechen.

Christoph Badelt

leitet seit September das Österreichische Institut für Wirtschaftsforschung. Er ist Universitätsprofessor für Wirtschafts- und Sozialpolitik. Er lehrt und forscht seit 1974 vor allem an der Wirtschaftsuniversität Wien. Von 2002 bis 2015 war Badelt Rektor der WU, vier Jahre lang war er zudem Vorsitzender der Österreichischen Universitätenkonferenz. Im Jahr 1999 wurde Badelt zum Wissenschafter des Jahres gekürt.