Technik alleine ist wertlos

Ausbildung
15.02.2022

Ohne technisches Know-how kann kaum ein Unternehmen den digitalen Wandel meistern. Und doch mischen Techniker noch vergleichsweise selten im Top-Management mit. Warum sie dafür ihr Selbstverständnis ändern müssen, erklärt Prof. Wolfgang H. Güttel, Dean der Academy for Continuing Education an der TU Wien.
Wolfgang H. Güttel

Technologie bestimmt immer stärker unser Leben und auch den wirtschaftlichen Erfolg von Unternehmen. Genießt das Thema im Management ausreichend Aufmerksamkeit?

Technik wird unsere Lebensbereiche immer stärker durchdringen, beruflich wie privat. Auch weil sich die digitale Evolution fortsetzen wird. Allerdings muss man klar sehen, dass Technologie für sich genommen wertlos ist. Sie muss strategisch eingebunden werden. Sie benötigt die Aktivierung durch Personen, damit sie in Märkte gebracht werden kann. Technologie braucht Prozessketten, Logistik und Analysen, in welches Geschäftsmodell sie zu welchem Preis eingebettet werden kann. Ohne Management, d. h. Planung, Organisa­tion, Personaleinsatz, Führung, Kontrolle und Kommunikation bzw. Koordination, kann also auch die ansprechendste Technologie nicht nutzbar gemacht werden.

Und wir sehr spiegelt sich das in den Führungsebenen wider?

Ich beobachte zwei Zugänge in Unternehmen. Manche Unternehmen haben eine große technische Awareness im gesamten Vorstand und der Geschäftsführung. In diesen Betrieben wirkt das Management auch sehr aktiv auf die nächsten Ebenen ein, um Technologien weiterzuentwickeln. Der zweite Zugang: Wenn sich das Top-Management nicht selbst des Themas annimmt, werden dafür häufig Spezialisten in den Vorstand geholt. Es ist zum Beispiel gerade sehr modern, einen „digitalen“ Vorstandsbereich einzurichten. Das kann durchaus Sinn ergeben, wobei es sicher besser ist, das Thema gesamthaft mitzudenken. Technik in einem einzelnen Verantwortungsbereich zu parken ist keine gute Idee.

Wie groß ist denn die Gefahr, dass wichtige technische Innovationen unbeachtet in Silos verkümmern?

Das habe ich vor der Pandemie häufig gesehen. Die Digitalisierung war in vielen Unternehmen weit weg. Personen und kleine Abteilungen, die sich damit befasst haben, hatten eine Außenseiterstellung. Corona war diesbezüglich ein Brandbeschleuniger. Plötzlich war jedem klar, dass Digitalisierung notwendig ist, um intern Prozesse zu optimieren und extern die Schnittstellen zu den Märkten zu gewährleisten. Auch die Orientierung anhand der Kundenbedürfnisse ist stark in den Fokus gerückt. Das Grundverständnis hat sich also stark gewandelt. Digitalisierung ist vom Rand in die Mitte der Unternehmen gerückt.

Technik und Management sprechen nicht immer die gleiche Sprache. Welche Mentalitätsunterschiede gibt es bei den handelnden Personen?

Ich arbeite gerne mit einem Persönlichkeitsmodell, das vier Typen unterscheidet. Auf einer Achse steht der rationale Typus dem hochemotionalen Typus gegenüber. Das könnten zum Beispiel ein hochspezialisierter Arzt und eine empathische Krankenschwester sein. Und dann gibt es auf der anderen Achse den stabilitätsorientierten Typus, also den klassischen Manager. Er setzt auf das Weiterführen des Vorhandenen. Ihm gegenüber steht der Innovator, der typische Entrepreneur, der ständig hinterfragt, weiterentwickelt und Visionen vorantreibt. In diesem Modell sind die Techniker stärker im Rationalitätstypus angesiedelt. Allerdings ist jeder Mensch ein Mischtypus abseits dieser Idealmodelle, wobei die Grundcharakteristika oft recht ausgeprägt sind.

Wie wirkt sich dieser Umstand auf die Zusammenarbeit mit Kollegen aus?

Können sie ausreichend begeistern und ihre Ideen sichtbar machen? Der Herausforderung liegt für viele rationale Techniker darin, dass sie ihr Selbstverständnis ihrer konkreten Rolle verändern und sich ganz bewusst ein Stück aus der Technik zurückziehen müssen, um im Unternehmen erfolgreich zu sein. Der Blickwinkel verändert sich massiv, wenn Techniker als Führungskräfte agieren. Sie müssen den Fokus weg von technischen Details lenken und sich mit der Frage befassen, wie sie die Expertise der anderen stärken können. Sie müssen Leadership leben und Projekte koordinieren. Für diese strategische Rolle müssen sie ganz bewusst Verantwortung übernehmen und auch ein entsprechendes Zeitbudget einplanen. Zudem rücken strategische Fragen in den Mittelpunkt: Welche Technologien brauchen Kunden und wie können sie profitabel eingesetzt werden?

Wie leicht fällt dieser Wechsel vom Tüftler und Experten zum strategischen Manager?

Leicht fällt es dann, wenn klar wird, dass durch den Rollenwechsel die Führungsexpertise statt Fachexpertise gefragt ist. Aber es ist nicht immer einfach, aus dem Spieler am Feld einen perfekten Trainer bzw. Coach zu machen. Wer nicht bereit ist, sich vom Tagesgeschäft zu lösen, kann im Management keinen Erfolg haben. Denn die Kunst liegt darin, dass die Führungskraft aus den zugeteilten Fachexperten ein funktionales und schlagkräftiges Team formt; ohne die nötige Empathie wird dies nicht gelingen.

Was brauchen Techniker, um gute Manager zu sein, und was brauchen Manager, um Technik zu verstehen?

Was beide brauchen, ist Zeit und Aufmerksamkeit für strategisch-konzeptionelles Arbeiten. Um für die Verbesserung der operativen und strategischen Rahmenbedingungen zu sorgen, damit Mitarbeiter besser arbeiten können und damit das Team gut geformt wird. Beide müssen einen freien Blick auf die Entwicklung neuer Produkte und auf die Effizienzsteigerung bei den Prozessen haben. Das ist allerdings beiden nicht in den Schoß gelegt. Welche Fähigkeiten sie erwerben müssen, hängt immer stark davon ab, woher die Personen kommen.

Und wer tut sich leichter, die Skills der anderen Gruppe nachzulernen?

Leicht tun sich in Führungsrollen immer Generalisten. Je stärker jemand mit Details befasst ist, desto schwerer tut er sich, sie loszulassen. Und wenn ein sehr strategischer Blick gefordert ist, kann der Spagat sehr breit werden. Darüber hinaus muss klar gesagt werden: Aus einem Betriebswirt wird nicht so leicht ein technischer Fachexperte. Die technischen Studien sind extrem komplex und umfangreich. Das holt niemand nebenbei einfach nach. Aber die Fähigkeit, Dinge auszublenden und Komplexität zu reduzieren, um mit dem Blick auf wenige essenzielle Faktoren ein sehr hohes strategisches Niveau zu halten, ist dagegen eine Kunst, die viele Betriebswirte perfektioniert haben. Und beide schätzen einander im Idealfall.

Wie würde es sich auswirken, wenn mehr Techniker und Nerds in den Chefetagen säßen?

Sofern sie sich von der reinen Fachexpertise lösen können, würde es zu mehr Verständnis im Management für die Einbettung von Technologien und für eine breitere Diskussion von deren Potenzialen für neue Geschäftsmodelle, Produkte oder Prozesse führen. Denn: Je höher das Technologiewissen, umso eher können daraus auch Lösungen für Kunden entwickelt werden, sofern kundenorientert – und nicht technikorientiert – gedacht wird. Oft ist es in bestehenden Organisationen schwer, Neuerungen umzusetzen. Neue, radikale Ansätze brauchen geschützte Räume, da F&E immer mit dem Risiko von Fehlschlägen verbunden sein kann. Wenn nun im General Management tendenziell stabilitätsorientierte Personen sitzen, die das bestehende Kerngeschäft erfolgreich weiterführen wollen und in neuen Technologien stärker die Risiken sehen, dann wird es schwierig. Die sind zurückhaltend. Und die Eigentümer-Familien oder Aktien-Besitzer scheuen auch eher das Risiko. Hier könnten kommunikative und innovationsoffene Techniker oder Nerds durchaus Impulse setzen.

Mit Blick auf den digitalen Wandel: Was ist aus Ihrer Sicht heute die wichtigste Erfolgseigenschaft im Management?

Am wichtigsten ist die Erkenntnis: Technik alleine ist wertlos. Unternehmen müssen sie in den richtigen – strategischen – Kontext setzen, um von ihr zu profitieren. Ein mittelständischer Brillenhersteller hat zum Beispiel lange vor Google die Technologie für ein VR-fähiges Device entwickelt. Aber ohne Strategie und Finanzkraft ist auch die beste Technologie nicht marktfähig. In jedem Unternehmen muss klar sein, dass Technologie und Management Hand in Hand gehen müssen. Dafür braucht es Personen, die visionär vorangehen und beide Seiten strategisch verbinden können.

Zur Person

Wolfgang H. Güttel ist Universitätsprofessor für Leadership & Strategy am Institut für Managementwissenschaften und Dean der Academy for Continuing Education (ACE) an der TU Wien.