Ich habe leider keine prophetische Gabe

Wirtschaftsstandort
11.05.2022

Wenn Walter Ruck den Standort Wien beschreibt, setzt er auf Tradition und Moderne. Wo sich die Bundeshauptstadt rasch verbessern muss und warum er lieber ruhig plant, als in der Öffentlich zu streiten – ein Gespräch mit dem Präsidenten der Wirtschaftskammer Wien.
Walter Ruck im Interview

Die Pandemie, der Ukrainekrieg und enorme Rohstoffpreise wirken sich aktuell stark auf die Wirtschaft aus. Wie schätzen Sie die Situation am Standort Wien ein? Wien zeichnet vor allem seine Vielfalt aus. Deswegen ist auch die Lage sehr unterschiedlich. Es gibt Branchen wie Eventbusiness, Hotellerie und Gastronomie, die stark von der Pandemie betroffen sind. In vielen anderen Bereichen laufen die Geschäfte aber gut bis sehr gut. Der Lebensmittelhandel und Baumärkte florieren zum Beispiel. Diese Diversität ist ein großer Vorteil. Je breiter man aufgestellt ist, desto geringer ist das Klumpen-Risiko. Das hat uns auch in der Corona-Krise garantiert geholfen. Wien ist um rund ein Prozent besser durch 2020 gekommen als der Durchschnitt Österreichs und die Bundeshauptstadt hat auch beim Wachstum stärker zulegen können. Das erklären wir uns mit der Besonderheit der Ausgewogenheit des Standortes.

Wien zeichnet sich besonders durch seine Lage zwischen Ost und West aus. Welche Veränderungen kommen durch den Ukraine-Konflikt auf die Positionierung des Standorts zu? Die ersten Gespräche zwischen den Konfliktparteien Russland und Ukraine haben im NATO-Land Türkei und nicht im historisch gewachsenen Verhandlungsraum Wien stattgefunden. Es war immer eine Stärke von Wien, einen neutralen Ort zu bieten, wo man sich treffen kann, um Konflikte gewaltfrei zu lösen. Das hat auch zu unserem angesehenen Ruf in der Welt beigetragen. Darum würde es mir sehr gut gefallen, wenn wir auch in der aktuellen Situation dazu beitragen könnten, den Krieg zu beenden. Wir haben wenige Bodenschätze und keinen Meerzugang. Wir sind auf die Menschen angewiesen und auf unsere internationalen Beziehungen.

Wie kann man aktuell Position beziehen und gleichzeitig neutral sein? Zunächst muss man zwischen dem offiziellem Russland und den Russen differenzieren. Man kann ja nicht alle dafür verantwortlich machen, was die Führung eines Landes tut. In so einer Situation wird allerdings wenig differenziert. Das ist schlecht, weil dadurch Pauschalurteile entstehen. Wir haben immer wieder klar Position bezogen, aber wir haben den Parteien dennoch die Möglichkeit gegeben, sich hier zu treffen. Ein Beispiel dafür sind die Gespräche zwischen dem Iran und den USA. Das wünsche ich mir jetzt wieder. Wir waren immer Verbinder.  

Welche Rolle wird der Osten für die Drehscheibe Wien mittelfristig spielen? Russland selbst ist für Österreich wirtschaftlich betrachtet nicht  überproportional bedeutend. Die relevanten Geschäfte machen wir mit dem gesamten Osten Europas inklusive Russland und Ukraine. Deswegen sind wir doppelt betroffen, da zwei Partner wegfallen. Es wäre nun nicht gut, zu sehr auf den russischen Raum zu fokussieren. Viele andere Länder der Region sind wichtiger. Wir stehen jetzt wirtschaftlich vor der Herausforderung, die wegfallenden Märkte zu kompensieren.  

Mit welchen Standortfaktoren kann Wien dabei besonders punkten? Wien hat sehr viel an Innovation zu bieten, vor allem im Medizin-Bereich. Dieser Faktor wird immer wichtiger. Der Gurgeltest ist etwa eine Wiener Erfindung. Wir sehen auch viele Ansiedelungen in diesem Bereich. Grund dafür ist, dass Wien ein Wissensstandort ist. Wien ist die größte deutschsprachige Universitätsstadt. Das zieht Firmen an, die entsprechendes Personal brauchen. Die Internationalität des Standortes zählt auch zu den Stärken, genau wie die Erreichbarkeit. Wir hatten letztes Jahr wieder über 200 Ansiedelungen – trotz Corona. Dadurch werden viele Arbeitsplätze geschaffen und weitere Innovationen entstehen.

Welche Rolle spielt der Standortfaktor Mensch? Sind die Wiener ein Asset oder machen sie ihrem Ruf als Grantler alle Ehre? Ich glaube, dass diese Zuschreibung überschätzt wird. Dieses Image tragen wir manchmal vor uns her, um uns eine Art USP zu geben. Aber die internationale Bedeutung wird überschätzt. Tatsächlich ist Wien ein Schmelztiegel von Menschen mit internationalem und nationalem Hintergrund aus den Bundesländern. Das ist ein Vorteil von Wien. Darüber hinaus haben wir das Riesenglück, dass wir in der Präzision als Deutsche und in der Geselligkeit als Italiener gesehen werden. Das hilft uns am internationalen Markt, aber auch bei den Ansiedelungen. Wenn ein Unternehmen hier sein Headquarter aufmacht, stehen dahinter Menschen. Sie stellen sich Fragen nach Sicherheit, Schulen, dem Gesundheitssystem, der Umwelt. Bei diesen harten Standortfaktoren schneiden wir extrem gut ab.

Wenn Sie den Standort potenziellen Investoren beschreiben: Was heben Sie hervor? Bei Empfängen mit ausländischen Wirtschaftstreibenden beginne ich immer so, dass sie vielleicht die Staatsoper und gewisse Sehenswürdigkeiten kennen, dass sie aber vermutlich nicht wissen, dass Wien die größte deutsche Universitätsstadt ist. Ich setze also immer auf eine Verbindung unserer Geschichte zur modernen europäischen Großstadt.

In welchem Bereich hat Wien den größten Aufholbedarf? Wien ist digital zwar besser ausgebaut als viele andere Teile Österreichs, die Infrastruktur ist aber immer noch unzureichend. Es wäre sehr wichtig, dass wir hier rasch weiterkommen. Das würde viel  Wertschöpfung bringen. Es würde auch unsere Lebensqualität weiter steigern, weil ortsunabhängiges Arbeiten noch einfacher werden würde. Ich glaube auch, dass wir an unserer Außensicht arbeiten müssen. Wir haben sehr hohe Kompetenzen im Bereich Smartcity, die auch ein Exportartikel sein könnten. Kein einziges Konzept im Ausland kommt an den Fortschritt von Wien heran. Mit mehr Selbstbewusstsein könnten wir mit unserem Know-how stärker herausgehen. Gleiches gilt auch für Bereiche wie Greentech und Abfallentsorgung.

Der Bürgermeister und ich sind Menschen, die sich lieber in Ruhe besprechen

Walter Ruck

Wien geht oft politisch einen anderen Weg als der Bund. Bürgermeister Michael Ludwig und Sie gehen sehr häufig abgestimmt an die Öffentlichkeit. Was steckt hinter dieser Achse? Das hat in Wien Tradition, auch unsere Vorgänger haben auf eine enge Zusammenarbeit gesetzt. Zudem muss man klar sehen, dass 99 von 100 wesentlichen Fragen, sachliche und keine ideologischen Fragen sind. Ihre Lösung kann man entweder in Ruhe planen oder in der Öffentlichkeit darüber streiten. Welchen Weg man wählt, hängt immer von den Menschen ab. Der Bürgermeister und ich sind Menschen, die sich lieber in Ruhe besprechen. Zudem schätzen wir beide einen gewissen Vorlauf. Das gilt auch für die Pandemie. Der Wiener Weg war stets, dass wir vorher genau hingeschaut haben und nicht so schnell euphorisch waren. Und auch jetzt denken wir schon darüber nach, was vielleicht im Herbst auf uns zukommt.    

Sie haben „Alles Gurgelt“ aus der Taufe gehoben und sich stark für Containment eingesetzt. Lange haben wir alle gehofft, dass wir mit Impfungen und Immunisierung aus der Pandemie herauskommen. Müssen wir uns davon vielleicht endgültig verabschieden und einfach mit der Krankheit leben? Ich habe leider keine prophetische Gabe. Ich sehe mir lieber historische Beispiele wie die spanische Grippe an und ziehe meine Schlüsse. Wesentlich sind auch die Erkenntnisse der Wissenschaft, die sich laufend verändern. Durch die Impfung ist es gelungen der Pandemie den schlimmsten Schrecken zu nehmen. Ob aus Corona eine normale Grippe wird, lässt sich noch nicht sagen. Aber ich glaube nicht, dass wir jetzt schon das Testregime vollständig abbauen sollten. Wenn im Herbst wieder eine Welle kommt, habe ich lieber die Hosenträger noch an und freue mich, wenn ich sie nicht brauche, als wenn mir die Hose herunter rutscht.