Ab in die Matrix

Gaming
06.05.2020

An fremde Orte reisen, Freunde treffen, gemeinsam an Projekten arbeiten: Mit Virtual Reality geht das - ganz ohne die eigenen vier Wände verlassen zu müssen. Warum sich Unternehmen genau jetzt mit innovativen Technologien befassen sollten und wie man das Gemeinschaftsgefühl in Zeiten von Corona fördern kann, erklärt die Gaming-Expertin Prof. Johanna Pirker im Interview.
„Unternehmen müssen diese Phase nützen, um Technologien auszuprobieren“, meint Prof. Johanna Pirker.

Sie sind Informatikerin mit Forschungsschwerpunkten rund um Gaming, Virtual Reality und Data Science. Gibt es in diesen Bereichen Entwicklungen, die uns in einer Zeit des Social Distancing helfen können?

Durchaus. Ich organisiere meine Lehrtätigkeit an der TU Graz zum Beispiel aktuell vollständig über Remote-Tools und habe dafür verschiedene Tools und Formate ausprobiert und ein paar sehr spannende Lösungen gefunden, die ursprünglich für ganze andere Bereiche entwickelt wurden.

Was können die Systeme, was etwa Zoom nicht kann?

Sehr spannend finde ich für die aktuelle Situation Twitch. Das ist eine Plattform für Gamer, auf der sie streamen, wie sie spielen. Das ist extrem populär und manche Games werden live von vielen tausenden Fans verfolgt. Ich habe dieses System jetzt verwendet, um zu streamen, wie man Spiele entwickelt. Das interessante an Twitch ist, dass es zur Interaktion über eine Chatfunktion ermutigt. Da kommen ständig Fragen, Kommentare oder virtueller Applaus. Ich gestalte meine Vorlesungen immer offen und habe nun doppelt so viele Zuseher, wie ich Studierende hätte.

Worauf führen Sie den Andrang zurück?

In meine Vorlesung kommt jede Woche auch ein Gast. Normalerweise mussten wir die Speaker einfliegen und das konnten wir natürlich nur etwa zwei Mal pro Jahr machen. Jetzt schalten wir jede Woche einen internationale Top-Speaker aus der Spieleindustrie, oder einen tollen Entwickler zu. Dafür interessieren sich viele Menschen.

Wie gut die digitale Kommunikation funktioniert, haben auch viele Betriebe in den letzten Wochen erkannt. Zwar stellt die Isolation eine Belastungsprobe dar, trotzdem möchten laut Umfragen viele Menschen nach der Coronakrise verstärkt im Home-Office bleiben. Überrascht Sie das?

Nicht wirklich. Die aktuelle Situation hat viele zum Umdenken gebracht. Zahllose Betriebe wurden durch die Situation ins kalte Wasser gestoßen, aber bei der Mehrzahl hat es gut funktioniert. Die Unternehmen haben rasch erkannt, wie leicht es geht und wie weit die Technik bereits ist. Das ist sicher ein positiver Aspekt, den man mitnehmen kann. Ich glaube deshalb, dass Homeoffice auf breiter Basis erhalten bleiben wird.

Der menschliche Kontakt ist sehr vielschichtig und das Beisammensein mit Kollegen besteht ja nicht nur aus dem reinen Informationsaustausch. Kann man Gemeinschaftsgefühl auch über digitale Kanäle schaffen?

Digitale Kommunikation kann den persönlichen Kontakt sicher nicht völlig ersetzten. Aber man kann versuchen den Austausch zu optimieren. In meinem Team haben wir regelmäßige Meetings eingerichtet, wo sich alle über die Webcam sehen können und auch berichten, wie es ihnen geht, wie ihre Woche war. Die persönliche, schöne soziale Interaktion auch abseits des Berufs soll nicht verloren gehen. Wenn es etwas zu feiern gibt, wie ein Projekt oder eine Publikation, dann setzen wir uns mit einem Bier hin und stoßen über die Kameras an. So eine neue Wir-Kultur muss man aber aktiv schaffen. Ich empfehle also, die Tools nicht nur für die reine Arbeit zu nützen.

Wie gut können Virtual Reality (VR) und Gaming die Welt da draußen in die Wohnungen bringen, in denen sich gerade der Großteil des Lebens abspielt?

VR wäre eine tolle Technologie um Kollaboration in der aktuellen Situation zu vereinfachen. Kaum jemand hat bereits eine gute VR-Brille zu Hause und es fehlen teilweise noch die Softwaresysteme dahinter. Aber die Entwicklung der Technologie schreitet rasch voran.

Woran wird gerade gearbeitet?

Die Technologie ist mittlerweile relativ günstig, wodurch das Potenzial enorm steigt. Meine Arbeitsgruppe entwickelt etwa Lehrszenarien für VR, um virtuell in ein Physik-Labor gehen zu können. Das wäre in der aktuellen Situation super für Schulen. Es gibt auch Firmen, die Kollaborationsmöglichkeiten für Unternehmen entwickeln. Dabei geht es um virtuelle Räume mit Avataren. Die Systeme haben den Vorteil, dass man darin Objekte und Unterlagen in 3D-Ansicht teilen kann. In dieser Entwicklung steckt großes Potenzial.

Der Tourismus ist gerade extrem stark eingeschränkt. Ob man dieses Jahr ins Ausland fahren kann, ist ungewiss. Entsteht jetzt ein Markt für virtuelle Reisen?

Über VR an andere Orte zu reisen, ist einer der gängigsten Usecases. Man kann mittels VR zum Beispiel bereits den Mount Everest besteigen. Bislang wurden solche Destinationen ausgewählt, weil sie vielen Menschen körperlich oder finanziell verschlossen waren. Es ging also bislang oft um Erfahrungen, die sonst nicht möglich wären. An den Strand kamen die meisten Menschen recht leicht. Das wird sich nun ändern. Wenn ich auf einen schönen Berg steige, kann ich die Erfahrung mit einer 360-Grad-Kamera aufnehmen, und andere Menschen können sie sich mit der VR-Brille ansehen. Das gleiche gilt natürlich für Aufnahmen vom Strand, die Menschen mit mir teilen könnten.

Wie real sind die Eindrücke?

Wenn die Technik gut ist, fühlt sich das Erlebnis sehr intensiv an. Deswegen wird VR sehr gerne im Meditationsbereich angewendet. Der ganze Relaxing und Selfcare-Bereich setzt auch immer öfter auch VR, um beruhigende Orte zu schaffen. Der Fachbegriff dafür, wie realistisch sich die Erfahrung anfühlt, lautet Immersion. Im Idealfall hat man den Eindruck, dass man wirklich da ist. Wer etwa gerade in einer kleinen Wohnung sitzt, kann mit VR für eine halbe Stunde an einen Strand gehen und sich dem Gefühl der Weite hingeben. Das ist für die Psyche sehr wertvoll.

Was für ein Equipment benötigt man dafür aktuell?

Es gibt mittlerweile VR-Headsets für einige Hundert Dollar, die selbst den Raum abtasten und einem auch Bewegung in den eigenen vier Wänden unkompliziert ermöglichen. Das war früher technisch sehr aufwändig. Jetzt glaubt man echt, dass man in der virtuellen Welt ist und es gibt Controller, mit denen man auch virtuelle Objekte bewegen kann, wodurch Interaktion möglich wird. Hätten wir bereits mehr davon in den Haushalten, wäre die Technologie aktuell für viele Anwendungsfälle vermutlich sinnvoll nutzbar.

Eines Ihrer Hauptgebiete ist Gaming - eine Milliarden-Dollar-Industrie. Vermutlich erlebt diese Branche gerade einen Höhenflug.

Die Nachfrage ist natürlich gerade sehr hoch und die Spiele werden immer aufwendiger produziert. Spannend ist, dass die WHO nun zum ersten Mal die Empfehlung rausgeben hat, dass Kinder Videospiele spielen sollen - auch weil sie einen sozialen Anteil haben. Denn es ist möglich, sich innerhalb der Games mit Freunden zu treffen. Darüber hinaus sind die Spieler beschäftigt und kognitiv gefördert. Das ist aktuell sehr nützlich. Sehr spannende Entwicklungen gibt es auch im E-Sportsbereich.

Zum Beispiel?

Interessant finde ich die Vermischung von echtem Sport und Game. Es werden etwa bereits Radrennen virtuell ausgetragen, wo die Fahrer tatsächlich auf ihrem Rennrad sitzen, dass auf einer Rolle steht. Auch die Formel 1 hat damit begonnen Rennen virtuell auszutragen und damit die Fan-Sonntage zu ersetzen. Da können sich dann Fans mit den Rennprofis messen. Ein anderes Beispiel ist Laufen, wo ganze Marathons auch perfekt am Laufband gelaufen werden können. Es gibt auch Bereits interaktive Kletterwände, die sich bewegen. Diese Entwicklung wird noch viele tolle Lösungen schaffen.

Der E-Commerce sichert gerade vielen Unternehmen das Überleben. Wie kann das Shopping-Erlebnis virtuell erweitert werden?

Hier gibt es zum Beispiel bereits sehr einfache Lösungen, um Produkte mit dem Handy zu fotografieren und dann in 3D-Ansicht zu präsentieren. Solche Anwendungen können beim Online-Shopping einen wesentlich besseren Eindruck vermitteln. Bei Ikea wurde auch mit Augmented Reality viel experimentiert. Da geht es darum, sich möglichst gut vorstellen zu können, wie Möbel in einem Raum aussehen werden. Auch die Automobilbranche hat bereits extrem detailreiche Modelle ihrer Autos präsentiert. Porsche bietet etwa unterschiedliche VR-Anwendungen. In Amerika arbeitet Wal-Mart mit VR. Es gibt viele Therapeuten, die mit der Technik Posttraumatische Belastungsstörungen behandeln. Da tut sich also bereits viel mehr als man glaubt.

Ganz trivial ist die Entwicklung von Lösungen aber vermutlich nicht. Würden Sie Unternehmen empfehlen, sich in dieser angespannten Lage an das Thema zu wagen?

Absolut. Ich finde, dass jetzt die Zeit gekommen ist, um sich mit solchen Technologien zu befassen. Sie können einen echten Wettbewerbsvorteil bieten. Auch den kleinen Betrieben. Die Unternehmen müssen diese Phase nützen, um Technologien auszuprobieren, um kreativ zu werden und um Innovation zu fördern. Dann wird diese schwierige Situation uns auch tolle Ideen und Lösungen liefern, von denen wir in Zukunft profitieren können.

Links und Tipps für smarte Tools:

https://slack.com/

http://trello.com/

Tools from Gaming:

https://discordapp.com/

https://www.twitch.tv/

Der Lecture Stream von Johanna Pirker: https://www.twitch.tv/joeyprink

Virtual 3D-Room:

https://hubs.mozilla.com/

www.minecraft.net

Objekte in 3D visualisieren:

https://sketchfab.com

https://www.sculpteo.com/en/3d-learning-hub/best-3d-printing-articles/3d-scan-smartphone/

Zur Person

Johanna Pirker ist eine österreichische Informatikerin mit Forschungsschwerpunkten in den Bereichen Computerspiele, Virtual Reality und Data Science. Sie studierte Software Development and Business an der TU Graz sowie am Massachusetts Institute of Technology (MIT). Seit 2013 lehrt sie an der TU Graz Game Design and Development, Information Search and Retrieval und Social Media Technologies.