Ernst Ulrich von Weizsäcker: "Genügsamkeit wird wichtiger werden"

Weizsäcker
12.03.2020

Wenn sich etwas ändern soll, muss man dem Naturverbrauch einen Preis geben, fordert der Klimaforscher Ernst Ulrich von Weizsäcker. Wieso er die Nachhaltigkeitsagenda nicht für nachhaltig hält und es kindisch ist, sein Glück nur durch Besitzvolumen zu definieren – ein Gespräch über die Rettung der Welt.
Ernst Ulrich von Weizsäcker
Ernst Ulrich von Weizsäcker

Sie waren Präsident des Club of Rome, Sie sind renommierter Klimaforscher und nicht zuletzt studierter Physiker. Stellt sich der Klimawandel für einen Naturwissenschaftler anders dar als für die Politik, die gewisse Probleme damit zu haben scheint, wirkungsvolle Maßnahmen zu setzen? Ein Physiker weiß etwas, worauf die Klimaskeptiker immer wieder hinweisen. Nämlich, dass es auch schon vor Millionen von Jahren drastische Klimaveränderungen gegeben hat. Was die Skeptiker aber nicht wissen, ein Physiker aber schon, ist, dass wir über die periodische Warmzeit hinaus eine zusätzliche Erwärmung verzeichnen.

Die Wissenschaftler sind sich in diesem Befund ja sehr einig, und die Erkenntnis ist nicht gerade neu. Sie saßen selbst für die SPD im deutschen Bundestag, kennen das System also auch von innen. Woran liegt es, dass so wenig vo­rangeht? Wenn ich böse bin, sage ich: an den Wählern. Sie wollen, dass es bequem ist, und sie denken, dass es unbequem wäre, wenn es stimmt, was die Klimaforscher sagen. Zudem muss die Politik auch jene berücksichtigen, die Geld mit dem Verbrauch natürlicher Ressourcen verdienen. Alles umzukrempeln und zum Beispiel der Industrie zu sagen: Auf die Art werdet ihr kein Geld mehr verdienen, das gehört der Vergangenheit an, ist politisch fast unmöglich. Man muss also Kompromisse finden, und das macht langsam. 

Eu-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat mit dem sogenannten Green New Deal durchaus ambitionierte Ziele angepeilt. Der Kontinent soll bis 2050 klimaneutral werden. Denken Sie, dass jetzt vielleicht mehr Fahrt in das Thema kommt? Ich finde ihre Pläne mutig und sehr gut. Es freut mich auch, dass die europäische Investitionsbank dabei mitspielt. Die Chinesen, die Japaner und das Silicon Valley laufen extrem schnell vorwärts, und Europa hätte eine große Chance, auch eine Interkulturalität in den Fortschritt einzubringen. Das können die Chinesen nicht. Die Welt ist aber heute interkulturell. Insofern hoffe ich, dass die Konzepte aus Europa zum Exportschlager werden.

Der Club of Rome hat schon vor über 40 Jahren mit dem Buch „Die Grenzen des Wachstums“ die Ressourcenfrage ins Zentrum der Aufmerksamkeit gestellt und setzt sich seitdem für eine nachhaltige Zukunft der Menschheit und für eine Transformation der Wirtschaft ein. Was hat die Organisation erreicht? Das ist schwierig zu beantworten. In den 70er Jahren war der Club of Rome so etwas wie eine Kristallkugel. Die Menschen dachten: Die wissen etwas über die Zukunft, was wir nicht wissen. Deswegen hat zum Beispiel Bruno Kreisky den Vorstand zu einer Kabinettssitzung eingeladen. Das wäre heute undenkbar.

Wieso? Weil der Club of Rome damals ein echtes Alleinstellungsmerkmal hatte. Heute gibt es 100 andere Thinktanks, die auch nicht schlechter sind. Allerdings hat er die Diskussion, die heute zum Beispiel von Greta Thunberg vertreten wird, erstmals breit in die Weltzivilisation eingebracht.

Wenn es 40 Jahre gedauert hat, bis die Erkenntnis in der vollen Breite der Gesellschaft angekommen ist, muss man hoffen, dass es nicht ebenso lange dauert, bis beherzte Maßnahmen gesetzt werden. Ob wir uns unserem Wissen gemäß verhalten, ist eine andere Frage. Das liegt auch an der Werbung. 95 Prozent der Botschaften zielen auf Konsumvermehrung ab. Obwohl in der Wissenschaft die Grenzen des Wachstums evident sind, scheinen sie für die Wirtschaft noch immer nicht zu existieren. Außer neuerdings beim Klima und bei der Biodiversität. Die Tatsache, dass der Mensch und seine Schlachttiere mittlerweile 97 Prozent des Gewichts der auf dem Lande laufenden Wirbeltiere ausmachen, erschreckt doch viele Menschen.

Dennoch bleiben die Bemühungen der Weltgemeinschaft vergleichsweise zögerlich. Vielleicht auch deswegen, weil die UN mit der Agenda 2030 einerseits den Planeten retten will, sich aber auch dafür einsetzt, dass die Bevölkerung der Welt nicht in Armut leben muss. Was wiederum mehr Wachstum und damit CO₂-Emissionen produziert. Wie kommen wir aus diesem Dilemma heraus? Der Skandal ist, dass die meisten diese Frage gar nicht stellen. Sie wird nicht gern gehört. Bei der UNO wird nicht über Grenzen des Wachs­tums geredet. Ich habe das bei den Verhandlungen in New York zu den Entwicklungszielen der UN erlebt. Die Entwicklungsländer wollen Entwicklung, also Wachstum.
Wie nachhaltig sind dann die Sustainable Development Goals aus Ihrer Sicht? Die Nachhaltigkeitsagenda ist nicht nachhaltig. Die Erreichung mancher Ziele schließt das Erreichen anderer faktisch aus. Wenn wir mit den heutigen Techniken Hunger und Armut auf der Welt besiegen, wird das zu Lasten des Klimaschutzes, der Ozeane und der Biodiversität gehen. Das sind die drei ökologischen Themen.

Sehen Sie keine Möglichkeiten, um das Wohlstands-wachstum vom Ressourcenverbrauch abzukoppeln? Natürlich tut sich im Bereich der Effizienz bei der Produktion extrem viel, und auch Ansätze einer Kreislaufwirtschaft verbessern die Lage. Allerdings gibt es auch den Rebound-Effekt. Es ist empirisch erwiesen, dass fast jede Effizienzverbesserung alsbald durch zusätzlichen Konsum aufgefressen wird. Für die Natur bleibt am Ende wenig übrig. Der von den Menschen gewünschte Trend geht immer in Richtung von mehr Konsum. 
Wie könnte man diesen Teufelskreis stoppen? Man muss dem Naturverbrauch einen Preis geben. Die Lehre vom freien Markt, der nicht reguliert werden darf, verhindert das bislang allerdings noch sehr erfolgreich. Aber ohne CO₂-Bepreisung wird es nicht gehen.

Woran soll sich dieser Preis orientieren? Ich habe vor zehn Jahren die chinesische Regierung beraten und damals vorgeschlagen, die Energiepreise jedes Jahr um so viel Prozent zu erhöhen, wie im vergangenen Jahr die Effizienz zunahm. Wenn man so ein System einführen würde, wären die Investoren rasch auf der Seite der Ökologen und würden für mehr Effizienz sorgen.

Der Black Rock-Chef Larry Fink hat in einem Brief an die CEOs der Konzerne, an denen sein Unternehmen beteiligt ist, mehr Nachhaltigkeit eingefordert. Ein Zeichen, dass die ­Finanzwirtschaft das Thema Ernst nimmt? Das ist auf alle Fälle ein symbolträchtiger Schritt in die richtige Richtung. Spannend ist auch, was Jeremy Leggett, der Erfinder der Divestment-Kampagne, erreicht hat. Er hat mit Freunden, zu denen auch ich gehöre, in den letzten fünf Jahren die großen institutionellen Investoren davon überzeugt, dass man keine fossilen Assets mehr haben darf. Das hat dazu geführt, dass die Kohleaktien auf den Aktienmärkten der Erde im Keller sind. Es ist sicher notwendig, die Investoren mit ins Boot zu holen, wenn man an die Zukunft denkt. Sie müssen sich gegen die Naturzerstörung stellen und dafür sorgen, dass eine politische Leitlinie kommt, die den Naturverbrauch langsam teurer macht.

Halten Sie das für realistisch? Viele Anzeichen stimmen mich optimistisch. Vor allem führt daran kein Weg vorbei. Wenn der Naturverbrauch einen Preis erhält, wird dadurch auch eine technologische Revolution ausgelöst, die so großartig ist wie die industrielle Revolution. Nur wird sie den Faktor der Effizienz betreffen und nicht nur die Arbeitsproduktivität. Es gibt das technische Potenzial, die Energieeffizienz zu verzwanzigfachen. Es scheitert nur noch am Preis. Darin steckt für moderne Firmen aus Europa eine gigantische Chance, denn wir sind ein ressourcenarmer Raum.

Der größte finanzielle Hebel gegen den Klimawandel liegt in Afrika und Asien. Trotzdem wird oft von der Politik der Eindruck vermittelt, dass der Kampf gegen den Klimawandel mit Radwegen und Konsumverzicht in Europa gewonnen werden kann. Wäre es nicht sinnvoller, die finanziellen Mittel aus Europa in Projekte in Regionen zu investieren, wo sie am meisten bewirken können? Dass Europa seine Mittel für Afrika massiv erhöht, halte ich an erster Stelle für ein moralisches Gebot. Ich denke, dass man noch ein Stück weiter am Beginn, nämlich bei der globalen Vermögensverteilung, ansetzen müsste. Wenn ein paar Multimilliardäre alles haben und die anderen nichts, macht das die Welt kaputt. Wenn alle das Gleiche haben, allerdings auch. Dazwischen gibt es ein Optimum.

Haben Sie eine Idee, wie wir zum Optimum gelangen könnten? Ich denke, dass neben der Technologie auch der Mindset eine wesentliche Rolle spielen wird. Genügsamkeit wird in Zukunft viel wichtiger werden. Sein Glück nur durch Besitzvolumen zu definieren, ist kindisch. Das Haben von ganz vielen Dingen, die man dann wegschmeißt, diese Sorte von Wohlstand ist überholt.

Vor zwei Jahren haben Sie einen großen Bericht an den Club of Rome mit dem Titel verfasst: „Wir sind dran. Was wir ändern müssen, wenn wir bleiben wollen.“ Wie beurteilen Sie Anfang 2020 die Lage: Werden wir bleiben können? Ich sehe eine Aufbruchsstimmung bei Ursula von der Leyen, bei einigen vernünftigen Amerikanern, bei manchen erstaunlich guten Chinesen und Japanern. Auch in Brasilien sind viele anderer Meinung als Präsident Bolsonaro. Auch Indien ist nicht zu verachten. Es gibt überall intellektuelle Keimzellen der Innovation, die mich insgesamt optimistisch stimmen. Aber wir haben ein gigantisches Problem und erst, wenn man die Realität ohne Scheuklappen anschaut, hat man genügend in der Hand, um zwischen Dingen zu differenzieren, die schön aussehen und jenen, die wirklich helfen.