Logistik im Stresstest

Logistik
12.09.2022

Schon die Corona-Krise hat den Transport-­Bereich vor enorme Herausforderungen gestellt. Faktoren wie Inflation und Klimakrise setzen nun noch eins drauf. Wo es besonders brennt und woher Abhilfe naht: eine Analyse.
Logistik Stresstest

Die Wirtschaft steckt im Krisenmodus. Eine Katastrophe scheint die nächste zu jagen, auch mittelfristig sind die Aussichten nur wenig rosig. Die Schlagwörter lauten: Rezession, Inflation, exogener Schock. Verschärfend für den Transportsektor kommt hinzu, dass Häfen und Fabriken aufgrund von Personalmangel und Corona-Erkrankungen immer wieder geschlossen werden müssen. Auch der Mangel an Fahrern macht vielen Betrieben stark zu schaffen. Die Lieferketten sind nachhaltig gestört und die Preise für Strom und Treibstoffe sind auf Rekordniveau, was auch die Logistikleistungen verteuert. TU-Professor und Geschäftsführer von Fraunhofer Austria, Wilfried Sihn, sieht mittelfristig drei zentrale Themen, mit denen die Logistik zurande kommen muss: Lieferfähigkeit, Klimawandel und Automatisierung.
Das absolute Topthema ist laut dem Experten in der aktuellen Situation die Fähigkeit, überhaupt liefern zu können. Die mangelnde Verfügbarkeit von Waren zieht sich mittlerweile quer durch alle Branchen. Waren zunächst noch vorwiegend komplexe Produkte wie Elektronikteile und Halbleiter knapp, sind jetzt auch Güter wie Bauholz oder Paletten nur schwer zu bekommen und entsprechend teuer. Gleiches gilt auch für die Kapazitäten der Logistik selbst. Die Zeiten, in denen Unternehmen Container günstig aus Asien transportieren konnten, sind vorbei. Zu den – auch aufgrund der hohen Auslastung – knappen Ressourcen der Transporteure kommen angebotsseitige Veränderungen. Die chinesische Wirtschaft benötigt beispielsweise immer größere Kapazitäten ihrer Elektronik-Produktion selbst. Dass China europäischen Unternehmen bei der Versorgung mit Bauteilen den Vorzug geben wird, ist nicht zu erwarten. Was wiederum die Preisspirale nach oben dreht. Begegnen könne die Wirtschaft diesem Problem laut Prof. Sihn nur mit einem Paradigmenwechsel. Anstatt auf Globalisierung müssten Betriebe auf Glokalisierung setzen. Getrieben von der Frage: Sind wir beim Einkauf richtig aufgestellt? Ist der billigste Anbieter wirklich gut, egal wo er sitzt? Lassen sich Produkte priorisieren? Prof. Sihn beobachtet, dass bereits viele Unternehmen ihre Strategie adaptieren und versuchen, sich ein zweites Standbein in Europa aufzubauen sowie die Abhängigkeit asiatischer Lieferanten zu verringern. „Auf diese Weise können Unternehmen die Resi­lienz ihrer Lieferketten steigern“, betont der Fraunhofer-Geschäftsführer.
Der zweite große Gamechanger im Bereich Transport lautet Nachhaltigkeit. Um den Klimawandel zu verlangsamen, setzt die Europäische Union auf umfangreiche Maßnahmenpakete. Sihn rechnet in den kommenden Jahren mit einer immer größeren Anzahl von zusätzlichen Vorgaben und Gesetzen, die auch mit finanziellen Strafen verbunden sein werden. Dadurch werde die Wirtschaft gezwungen zu handeln. „Sie muss richtig Geld in die Hand nehmen und klimaneutral werden“, meint Wilfried Sihn. Selbst wenn der Druck von Politik und Konsumenten ständig wächst: Dieser Prozess wird dauern. Doch schon in wenigen Jahren werden Transporteure nicht mehr mit Lieferwagen in die Innenstädte fahren dürfen, die mit fossilen Brennstoffen betrieben werden, prognostiziert Prof. Sihn. Vorbild dieser Strategie ist laut dem Fraunhofer-Chef die Flottenverbrauchsregel. Hat doch die EU bereits zur Senkung der CO2-Emissionen des Pkw-Verkehrs den Flottenverbrauch der Autohersteller limitiert. Wer gegen die Vorlagen verstößt, riskiert Milliardenstrafen. Prof. Sihn rechnet nun damit, dass diese Vorgehensweise der EU auch bei anderen Bereichen zum Einsatz kommen wird.

Wenn du einen schlechten Prozess digitalisierst,
ist es nachher ein schlechter digitalisierter Prozess.

Wilfried Sihn, Fraunhofer Austria

Wilfried Sihn , Fraunhofer Austria

Hoffnungsschimmer Digitalisierung
Lösen soll manche der Herausforderungen die Digitalisierung, womit das dritte zentrale Handlungsfeld der Branche angesprochen ist. In diesem Bereich ist schon viel in Bewegung. Der Logistiksektor setzt bereits auf autonomes Fahren, Roboter und automatische Kommissioniersysteme – um nur einige Beispiele zu nennen. Die Potenziale zur Optimierung der Effizienz sind laut Sihn aber noch bei Weitem nicht ausgeschöpft. In der Industrie stünden viele Unternehmen noch am Anfang. Zudem gilt: keine Nachhaltigkeit ohne Digitalisierung. Allerdings dürfe man sich keinen Illusionen hingeben: „Wenn du einen schlechten Prozess hast und du digitalisiert ihn, ist es nachher ein schlechter digitalisierter Prozess. Die Hausaufgaben muss man schon machen. Dann kann man drauf aufsetzen.“ Die Krisensituationen werden vermutlich nicht so rasch verschwinden. „Wir müssen echte Liefernetze anstatt Lieferketten schaffen“, erklärt Sihn. Diese Herausforderung gilt es für Unternehmen und Logistik zu lösen – gemeinsam.

Welche Trends die Logistik prägen

KI & autonome Systeme
Durch die Nutzung von KI können Spediteure ihre Prozesse effizienter gestalten, Daten leichter erfassen und auch Ausfallzeiten verhindern. Dies im Zusammenspiel mit smarter Technik wie Lager-Robotern, selbst fahrenden Lieferfahrzeugen und Gabelstaplern.

Logistik 4.0
Durch das Internet der Dinge kann jeder Gegenstand mit jedem anderen verknüpft werden und entsprechende Reaktionen auslösen. Das eröffnet auch in der Logistik ungeahnte Möglichkeiten. In vernetzten Warenhäusern können beispielsweise alle Objekte Informationen übermitteln. Gleiches gilt für smarte Pakete.

Multichannel-Logistik:
Eine ganz große Herausforderung für die Logistikbranche ist die Verkehrsinfrastruktur: Alle Unternehmen sind auf ein zuverlässiges Straßennetz angewiesen. Doch Realität sind Baustellen, Sperrungen und Staus. Um dieses Problem in den Griff zu bekommen, ist Multichannel-Logistik gefragt: Durch eine breitere Aufstellung der vertriebslogistischen Kanäle lassen sich Verzögerungsrisiken mindern und Logistikprozesse stabiler gestalten.