Die Kunst der Improvisation II

Meinung
02.05.2021

Wir befinden uns im Umbruch. Vielleicht ist genau jetzt der perfekte Zeitpunkt, um neue Räume zu öffnen und das Magische in den ökonomischen Alltag einzuladen, meint Harald Koisser und erklärt, wie wir gemeinsam den Sprung ins Neue schaffen könnten.

Ich habe in der letzten Kolumne das Loblied der Improvisation gesungen. Improvisieren zu können ist die große Fertigkeit der Zukunft. Wir stecken in einer Umbruchsphase, die möglicherweise, aus Sicht des großen Ganzen, gar nicht so lange dauert. Doch der Wimpernschlag der Geschichte kann für den Einzelnen unendlich sein. Der mittlerweile zurückgetretene Gesundheitsminister würde sagen: „Die nächsten fünfzig Jahre sind entscheidend.“

Umbruch ist Chaos. Alte Strukturen lösen sich auf, neue sind noch nicht da. Wir müssen strukturlos und haltlos leben. Wie geht das? Ich habe letztes Mal gezeigt, dass gute Musiker das können. Die vorgegebene Komposition endet, die Musiker heben sich von den Noten ab und vertrauen auf sich selbst und das Zusammenspiel. Das Notenblatt ist am Ende, die Musik erklingt weiter. Das ist Improvisation. Wir alle können das. Wir können es, weil wir unendlich schöpferisch und soziale Wesen sind. Die Schöpferkraft hat uns an den Zustand gebracht, wo wir sind. Das Zusammenspiel ist die große Macht des Menschen. Alleine ist jeder schwach, zusammen sind wir machtvoll.

Wir wissen aus der Hirnforschung, dass sich beim Musizieren die Hirnströme der Musizierenden synchronisieren. Je länger wir miteinander an einer Sache schöpferisch arbeiten, desto eher sind wir auf einer Welle. Wenn wir also die Kunst der Improvisation erlernen oder perfektionieren wollen, müssen wir Egoismen und Machtgelüste ablegen. Unsere Herzen und Hirne lieben Gemeinschaft. Ich bin kein Feind der Konkurrenz, doch wir haben es damit in den letzten Dekaden übertrieben. Die jetzt geforderte Improvisationskunst wird nicht gelingen, wenn jeder für sich dilettiert. Dann haben wir eine Kakophonie. Wir müssen in der Ökonomie das Miteinander lernen, damit wir gemeinsam durch das anstehende Chaos hindurch improvisieren.

Die Chefdirigentin der Philharmonie Salzburg, Lisi Fuchs, erzählt von Proben mit dem Orchester, wo ein Klarinettist plötzlich eine Phrase ganz anders spielt. „Oh, so habe ich das noch nie gehört“, denkt sie, „lasst uns doch alle dorthin phrasieren. Ich lächle den Klarinettisten an. Er versteht, dass das gut war und ich ziehe das ganze Orchester dorthin mit. Da entstehen in der Probe magische Momente, die man dann nachher einübt, um sie bei der Aufführung für das Publikum erlebbar zu machen.“ Da wird also Raum gegeben für den Eintritt des Magischen. Und wenn es sich ereignet, dann kann man es gemeinsam sogar einüben. Erst wenn viele zusammenwirken, kann man gewohntes Gelände verlassen und sich selbst neue Trittsteine schaffen. Den Raum derart zu öffnen, dass das Magische, das Neue, das Unerwartete regelrecht eingeladen wird, erfordert ein völlig anderes Denken. Wichtigster Parameter laut Lisi Fuchs: „Ich habe keine Angst.“

Das sagt sich leicht. Das Neue betritt man ja meist nicht in kleinen, vorsichtigen Schritten, sondern wagt irgendwann einmal einen Sprung. Da wir aber alle am selben Abgrund stehen, könnten wir den Sprung gemeinsam wagen. Wir können Allianzen bilden, quer über Branchen und Firmengrößen hinweg. Wir sollten Proberäume der Improvisation schaffen, um uns in das Neue einzuschwingen. Und wenn es gelingt, kann man das Neue einstudieren. Wir quirlen die Milch auf, bis sie Butter ist und schaffen uns so Halt in der Haltlosigkeit.

Wenn ich als Landwesen ins Wasser springe, muss ich eine neue Bewegungsart lernen. Mit Gehen gehe ich unter. Ich muss Schwimmen lernen. Das Chaos ist nichts anderes als ein neues Element, das neue Fortbewegungsarten fordert. Diese Fortbewegungsarten existieren. Chaos heißt nicht, dass gar nichts gilt, sondern dass etwas anders gilt als bisher. Dieses Andere finden wir. Der Kybernetiker Joel de Rosnay hat übrigens gemeint, dass Chaos ohnehin der einzig mögliche Aufenthaltsort von allem Lebendigen ist. Es wäre die exakte Mitte zwischen Erstarrung und Auflösung. Weder wollen wir zu viel Struktur, denn sie wird zur Bürokratie, noch wollen wir gar keine, denn dort ist Anarchie. Also müssen wir im Leben, um die beiden Extreme zu vermeiden, immer wieder in den offenen Raum des Chaos eintauchen.