Marketing

Werbung darf nicht langweilig sein

Marketing
24.05.2023

Unternehmen, die im Marketing alles richtig machen wollen, machen oft viel falsch. Aus Angst vor Irritation oder davor, gar einen Shitstorm auszulösen, werden die Botschaften fad und austauschbar. Doch es gibt ihn, den goldenen Mittelweg zwischen 08/15 und Auffallen um jeden Preis.
Glückliche Familie auf einer Wiese
Eine glückliche Familie auf einer Wiese

Immer wieder passiert in der Linzer Werbeagentur „Die Jungen Wilden“ Folgendes: Sie gewinnen einen Pitch, weil dem Auftraggebenden ihr mutiger Vorschlag am besten gefällt, aber am Ende kommt nur eine gefällige, aber unauffällige Kampagne heraus. Das liegt daran, dass sich viele Unternehmen zwar einen besonderen Außenauftritt wünschen, aber am Weg zur Umsetzung den Mut verlieren. Sie trauen sich doch nicht, etwas Ungewöhnliches zu wagen, das mehr Aufmerksamkeit erregt als ein braves 08/15-Sujet und haben Angst vor Irritation oder davor, gar einen Shitstorm auszulösen. Dann lieber gleich auf Nummer sicher gehen und eine aalglatte und, nun ja, fade Botschaft nach draußen senden.

Chance für die Kleinen

Dabei vergibt man sich Chancen, ist Silvia Lackner, Geschäftsführerin der „Jungen Wilden“, überzeugt: „Den Mutigen gehört die Welt, weil der Markt so voll ist.“ Gerade bei großen Unternehmen erlebt Lackner oft, dass ihrem Team erstmal kleinlich genau erklärt wird, was im Marketing sein darf und vor allem: was nicht. Nur nicht anecken und polarisieren ist die Devise. Start-ups und KMU seien da meist mutiger: Sie müssen sich in kein von oben diktiertes Regel-Korsett zwängen. Lackner glaubt: „Wenn die Großen immer nur auf einer Schiene bleiben, müssen sie aufpassen, dass sie von den Kleinen nicht überholt werden.“ Dabei müsse gute Werbung nicht unbedingt flapsig sein, denn es gibt den goldenen Mittelweg zwischen „Auffallen um jeden Preis“ und „nur ja in keinen Fettnapf steigen“.

Silvia Lackner, Geschäftsführerin der „Jungen Wilden“
"Den Mutigen ­gehört die Welt", sagt Silvia Lackner, Geschäftsführerin der „Jungen Wilden“

Silvia Lackner, Geschäftsführerin der „Jungen Wilden“

Frisches Image für unsexy Produkte

Ein Unternehmen, dem das bravourös gelingt, ist Ottobock, weltweit führender Anbieter von Prothesen, Orthesen, Rollstühlen und anderen medizintechnischen Produkten. Der Weltmarktführer in Prothetik produziert Produkte wie Hand- und Beinprothesen, die von Haus aus nicht sexy sind und die man lieber nicht haben bzw. brauchen möchte. Trotzdem hat Ottobock ein lebhaftes und bestärkendes Image. Da wirft auf Instagram die neunjährige Nomine im Rollstuhl lachend die Hände in die Höhe und sagt: „Ich bin wirklich ’ne Sportskanone. Ich brauche schon ein bisschen Action mal.“ Da posiert Angie, eine junge Frau mit zwei Beinprothesen, wie ein professionelles Model. Und da schnippelt Christian mit seiner Armprothese Gemüse.

Von den Besten lernen

Einige sind „Ambassadors“, also Markenbotschafter*innen, die am Ottobock-Account und auf der Website immer wieder auftauchen. So der heute 25-jährige Alex, der auf Instagram von seiner Krebsdiagnose erzählt, die eine Beinamputation nach sich zog, und der endlich wieder in seinen Beruf als Flugbegleiter einsteigen darf: „Ich wollte immer nur eins! Fliegen! Knapp vier Jahre und drei Monate sind seit meinem letzten Flug als Flugbegleiter vergangen. In dieser Zeit habe ich trainiert, geschwitzt, geweint und geflucht. Heute geht es für mich wieder in die Luft.“ Alex ist der erste deutsche Flugbegleiter mit Oberschenkelprothese – und mit seiner sympathischen Art perfektes Aushängeschild für Ottobock. Er hat es bei Instagram auf 100.000 Follower gebracht und ist einer von drei Influencer*innen mit Prothese, die in der MDR-Webdokuserie „Cyborgs of Instagram“ Einblick in ihr Leben geben.

Hochkonjunktur für Authentizität

Im Marketing spiegeln sich auch gesellschaftliche Veränderungen wider. Wer alles richtig machen will, bemüht sich daher zum Beispiel um Diversität: Möglichst viele Bevölkerungsgruppen sollen in der Werbung dargestellt werden. Sonst könnte es heißen, man sei rassistisch oder schließe ältere Personen aus. Das zeigt sich etwa darin, dass nicht mehr nur junge und schlanke, sondern auch ältere und rundliche Frauen in Unterwäsche posieren oder People of Colour das neueste Handy- oder Brillenmodell bewerben. Diversität ist ein wichtiges Thema, das aber auch gezwungen rüberkommen kann, wenn ein Unternehmen diese Werte nicht wirklich lebt. Wenn aber auch intern, etwa bei der Stellenbesetzung, auf Diversität geachtet wird, ist die Sache authentisch – ein Wort, das im Marketing gerade Hochkonjunktur hat. Anders gesagt: Lügen werden nicht mehr so leicht verziehen.

Die Zeiten ändern sich

Silvia Lackner, die seit mehr als 25 Jahren in der Werbebranche arbeitet, sagt: „Ich glaube, wir haben früher mehr gelogen als heute und schneller mal eine Geschichte gebastelt. Früher hat man gesagt: Wenn man gut ist im Verkauf, kann man einer Henne die Füße plattdrücken und sie als Ente verkaufen.“ Das funktioniere heute nicht mehr, weil junge Menschen sich sehr gut online informieren. Vorbei sei auch die Zeit, in der perfekte Menschen dargestellt wurden. Und auch die „Geiz ist geil“-Zeit – ein polarisierendes Werbesujet aus den frühen 2000ern, mit dem Saturn es sogar in Feuille­ton-Debatten geschafft hat – sei vorbei. Lackner glaubt, dass heute viel Sensibilität gefragt ist: „Wir brauchen heute Kampagnen, die ein Ah und Oh auslösen, aber im positiven Sinn.“

Emotion vor Produkt

Für Ottobock ist Diversity in die Unternehmens-DNA eingeschrieben, schon weil Menschen mit Prothesen nicht der Norm entsprechen. „Wir benötigen kein extra Diversity-Team“, sagt Martin Böhm, Chief Experience Officer (CXO). „Unsere Marke steht per se für das Thema.“ Das Unternehmen setzt daher stark auf User Generated Content: „Wir nutzen den Content, den unsere Anwenderinnen und Anwender selbst erstellen bzw. lassen Content direkt von ihnen erstellen. Damit stellen wir sicher, dass unsere Kommunikation immer auf Augenhöhe ist und niemanden diskriminiert oder provoziert.“ Zudem seien die Marketing-Teams divers und inklusiv: Viele Marketingleute tragen selbst Prothesen oder fahren im Rollstuhl.

Authentische Geschichten

Produkte spielen im Marketing oft nicht die Hauptrolle. Böhm: „Unsere Produkte sind Hightech und sehr aufwendig in echter Manufakturarbeit von engagierten Expertinnen und Experten hergestellt. Doch die Technik hinter den Produkten interessiert die Anwenderinnen und Anwender nicht wirklich.“ Es zähle, was sie damit machen können und wie die Produkte ihr Leben zum Positiven verändern – von der Rehabilitation bis zum Alltagsleben, Beruf oder Leistungssport. „Kommunikation ist Emotion“, sagt Böhm. „Die Differenzierung und Positionierung von Produkten und Marken geschieht auf Basis der emotionalen Benefits, weil die Produkte im funktionalen Bereich meistens austauschbar sind. Die Aufgabe des Marketings ist es, emotionale Geschichten zu erzählen.“

Dran am Zeitgeist

Man muss kein Riesenwerbebudget haben, um auf sich aufmerksam zu machen. Das schafft etwa das Hotel „Zeitgeist“ beim Wiener Hauptbahnhof, das auf Barrierefreiheit, Nachhaltigkeit, Diversität und Equality setzt. Auf Instagram findet sich neben für ein Hotel typischen Postings zu Zimmern und Kaffee-Angebot auch ein Video der Mitarbeiterin Nina, die sich in Gebärdensprache vorstellt. Auf einem Foto aus der Pandemie-Zeit zeigen sich Teammitglieder mit Masken in Regenbogenfarben. Daneben steht auf Englisch: „Hier im Zeitgeist Wien glauben wir an eine Welt der Inklusion und Gleichberechtigung. Wir überwinden die Angst vor dem Unbekannten und Neuen und unterstützen eine diverse und bunte Gesellschaft.“ Dazu passt das Profilbild: das mit der Regenbogenflagge hinterlegte Hotel-Logo. Und das ist nicht aufgesetzt: Im Hotel arbeiten 80 Menschen aus zwölf Nationen. Apropos: Da es für viele Unternehmen derzeit schwer ist, Mitarbeitende zu finden, wird Employer-Branding wichtiger. So investiert auch das „Zeitgeist“ in Marketing für potenzielle Teammitglieder. So werden etwa in einem Youtube-Video die Vorteile für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter beworben, darunter sechs Wochen Urlaub, eine Gratis-Jahreskarte für die Wiener Linien und kostenloses Essen.

Nackte Tatsachen

Ein Beispiel für ein anderes KMU, das mit seiner Werbebotschaft trotz Marktgeschrei wahrgenommen wird, ist das Wiener Familienunternehmen „1000 Tische & Stühle“, das in dritter Generation Möbel handelt, aber auch individuell anfertigt und restauriert. Vor allem das Logo fällt auf: ein am Bauch liegender nackter Mann, der mit einer Tasse am Gesäß einen Tisch symbolisiert. Das Sujet gibt es seit 1970, zwei Jahre nach Firmengründung – das erste Model war der Sohn des Gründers und Vater des heutigen Geschäftsführers David Krausz. Der erzählt: „Mein Großvater hat das Logo gestaltet, um aufzufallen.“ Sogar in die Zeitung schaffte es das Unternehmen – mit der Schlagzeile „Männlicher Sex erobert Plakatwände“. Krausz weiß aus Erzählungen: „Das war ein echter Skandal. Aber wir als KMU haben das damals gebraucht, um unsere Geschäfte anzukurbeln. Das war gerade in den Gründungsjahren sehr wichtig.“

Ein nackter Mann ist das Markenzeichen des Unternehmens 1000 Tische & Stühle.
Ein nackter Mann ist das Markenzeichen von 1000 Tische & Stühle.

Aufmerksamkeit statt Ärger

Heute sorgt der Mann mit Tasse, der auch in Übergröße von Lieferwägen und bei Messeauftritten von großen Plakaten lächelt, nicht mehr für Ärger, aber für Aufmerksamkeit. Krausz: „Auf Messen gehen manchmal Frauen kichernd und mit geröteten Wangen an unserem Stand vorbei. Und auch Männer sind oft im ersten Moment irritiert, aber finden es dann witzig.“ Etwas ist dabei eine Herausforderung: „Das Logo hat Witz, aber viele verstehen nicht, was es mit Möbeln zu tun hat. Da haben wir immer wieder Erklärungsbedarf.“ Dennoch ist David Krausz seinem Großvater dankbar, der das Firmen-Markenzeichen mit hohem Wiedererkennungswert für Jahrzehnte geprägt hat.
Die 1a-Installateure, eine Installateurs-Gemeinschaft mit 180 Standorten, hat sich im Marketing von nackter Haut verabschiedet. Während bis vor einigen Jahren eine „echte“ Meerjungfrau die Plakatwände zierte, gibt es sie jetzt nur noch in Form eines grafischen Symbols – und selbst das kommt in der Kommunikation laut Geschäftsführer Patrick Lenhart nur noch selten zum Einsatz. Lenhart nennt die Gründe dafür: „Die Meerjungfrau ist ein spielerisches Symbol für Wasser, was grundsätzlich nicht negativ ist, aber für In­stallateure liegt der Schwerpunkt im Heizungsbereich. Außerdem ist die Vermenschlichung einer Meerjungfrau nicht mehr zeitgemäß. Das war eine Modeerscheinung der 80er- und 90er-Jahre.“ Ferner gebe es Menschen, die sich an der Darstellung stören: „Ein vielleicht starkes, aber polarisierendes Sujet, das nur für einen Teil unseres Angebots steht, macht keinen Sinn.“

Kunst statt Meerjungfrau

Die aktuelle Kampagne der 1a-Installateure geht einen anderen Weg: Hier wird eine Badewanne wie ein Kunstobjekt in Szene gesetzt, darüber steht „Die hohe Kunst der Installa­tion“. Das Sujet wird unter anderem an einem hohen Bürogebäude über mehr als fünf Stockwerke gezeigt – so erregt auch eine Badewanne ganz ohne nackte Haut Aufmerksamkeit. Patrick Lenhart erklärt den Hintergrund der Kampagne: „Wir sind im Moment sehr sorgfältig, was Werbung betrifft, denn wir haben in der Installateurs- und Haustechnik derzeit eine übermäßige Nachfrage. Es gibt zu wenige Installateure, daher brauchen wir ein positives Berufsbild.“ Deshalb sei man von der reinen Produktkommunikation weggegangen – hin zur hohen Kunst der Installation. Entsprechend erzählen auch auf den Social-Media-Kanälen der 1a-Installateure Vertreter der Mitgliedsbetriebe, darunter Lehrlinge, warum sie gern als Installateur*innen arbeiten. Lenhart: „Als Markenbotschafter ist jemand, der den Beruf ausübt, viel glaubwürdiger, als ich oder irgendein Chef es sein könnte.“

Ein Werbeplakat der 1a-Installateure auf dem Palmers Hochhaus
Hohe Aufmerksamkeit ganz ohne nackter Haut: Die Badewanne als Kunstobjekt.  

Fehler zugeben

Die goldene Mitte zwischen zu gewagtem und nichtssagendem Marketing zu finden hält Patrick Lenhart für nicht schwierig, „solange man authentisch, ehrlich sowie auf Augenhöhe kommuniziert und sich das Werbeversprechen bestmöglich im Alltag wiederfindet. Wenn man da hineininvestiert, braucht es viel weniger Ablenkung, Polarisierung und Lärm.“ Und sollte doch mal ein Shitstorm ausbrechen? Patrick Lenhart hat das noch nicht erlebt, macht sich aber keine Sorgen: „Ein Shitstorm ist nichts anderes als ein gebrochenes Versprechen, über das sich die Leute beschweren – früher per Postkarte, jetzt über Social Media.“ 
So etwas komme aus der Emotion heraus – und die müsse man ernst nehmen: „Wenn man sofort und ehrlich reagiert und auch mal einen Fehler zugeben kann, ist so etwas meist wieder schnell erledigt.“ So gesehen kann sich ein wenig mehr Mut und Risiko im Marketing nur lohnen. Es muss ja nicht gleich eine Message sein, die fix alle auf die Palme bringt. Doch aus unternehmerischer Sicht wäre schon viel gewonnen, wenn die eigenen Werbebotschaften nicht vor lauter Perfektionsdrang in Schönheit sterben würden.

Drei Tipps für bessere Werbung

Martin Böhm, Chief Experience Officer bei Ottobock
Martin Böhm, Chief Experience Officer bei Ottobock

Martin Böhm, Chief Experience Officer bei Ottobock, gibt KMU, die trotz geringerer Marketingbudgets den goldenen Mittelweg im Marketing schaffen wollen, drei Tipps:

  1. Fokussieren Sie sich inhouse auf die Kernfunktionen, also Strategie und Konzeption und lassen Sie die Umsetzung von externen Partnern machen. Das macht Ihren Leuten mehr Spaß und Sie sind schneller und flexibler.
  2. Wer kein großes Media-Budget hat, muss sich auf seine eigenen Kanäle verlassen können. Die eigene Website sollte bei der organischen Suche unter den Top 10 sein. Investieren Sie in guten Content und Suchmaschinenoptimierung (SEO). Social Media, Influencer-Marketing und User-Generated-Content müssen heute Teil jeder Marketingstrategie sein.
  3. Erfinden Sie keine Geschichten, sondern finden und erzählen Sie diese: echte Anwender*Innen, echte Geschichten, echte Emotionen!