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Unternehmensführung
12.09.2018

Wenn Unternehmen auf langfristige Werte wie Loyalität, Vertrauen und Fairness setzen, hat das keinen Esoterik- Beigeschmack mehr. Es führt vielmehr zu erwünschten Ergebnissen – selbst wenn manch ein Geschäft auf der Strecke bleibt.

Vor einem Dreivierteljahrhundert gründete Martin Hilti das gleichnamige liechtensteinische Maschinenbauunternehmen. Vermutlich wäre er damals sehr schief angeschaut worden, hätte er über Unternehmenskultur oder Werte im Unternehmen gesprochen. Solche Dinge hatten einen seltsamen Beigeschmack – und waren in der ansonsten auf Umsätze und Gewinne fokussierten Wirtschaft lange Zeit verpönt.

Seither hat sich viel verändert. Unternehmen, die sich langfristige Werte wie Loyalität, Integrität oder Nachhaltigkeit auf die Fahnen – und in ihre Mission-Statements – schreiben, werden nicht mehr ausgelacht. Im Gegenteil: Das Bewusstsein dafür ist gewachsen, dass Unternehmen ein tiefgehendes Fundament brauchen, also einen Wertekodex, der im besten Fall hinter jeder Entscheidung steht.

WERTE ALS ORIENTIERUNGSRAHMEN

Für Dietmar Rößl, Vorstand des Instituts für KMU-Management an der Wirtschafts-Uni Wien, sind Werte „allgemein geteilte Vorstellungen darüber, was die Mitglieder einer Gesellschaft TEXT ALEXANDRA ROTTER für wünschenswert erachten“. Werte stecken „einen Handlungs- und Orientierungsrahmen für Organisationen, Unternehmen und deren Mitarbeiter ab. Sie durchziehen das gesamte gesellschaftliche Leben und damit auch das unternehmerische Handeln.“ Deshalb finden sie sich heute oft prominent auf Unternehmenswebsites. Sie werden also nicht nur nach innen, sondern auch nach außen kommuniziert.

Hilti ist ein Paradebeispiel für das Umdenken vieler Unternehmen in Richtung langfristiger Werte, die vordergründig nichts mit Umsatzzielen, Dividenden und Aktienkursen zu tun haben. Pius Baschera, der 1979 ins Unternehmen eingetreten ist, 13 Jahre lang Vorsitzender der Konzernleitung war und heute Mitglied des Verwaltungsrats und Sprecher des Martin-Hilti-Familientrusts ist, hat diesen Prozess mitbegleitet. Von der Zeit, als Gründer Martin Hilti noch die Geschicke des Unternehmens leitete, erzählt Baschera: „Damals hat man noch nicht groß über Unternehmenskultur gesprochen.“ Erstens sei es generell noch nicht so ein Thema gewesen. Zweitens ging es darum, als Team den Gründer und CEO in jenen Punkten zu unterstützen, die ihm wichtig waren. Eine neue Situation entstand mit dem Eintritt von Martin Hiltis Sohn Michael in den Vorstand in den frühen 1980er-Jahren. Baschera: „Er wollte ein starkes Team um sich haben und mit diesem darüber reden, was die kulturellen Werte im Unternehmen sind.“

„Gewinn ist nicht alles, aber alles ist nichts ohne Gewinn.“ Pius-Baschera, Hilti

VON MUT BIS ENGAGEMENT

Es folgte ein Prozess, in dem die wichtigsten kulturellen Werte definiert wurden: Die erste Liste wurde im Laufe der rund 30 Jahre immer wieder im Team überarbeitet. Heute finden sich die Grundwerte Integrität, Mut, Teamwork und Engagement inklusive kurzer Erklärungen dazu auf der Website. Doch Baschera betont, wie wichtig es ist, dass diese Punkte nicht nur an der Wand hängen. Seit Mitte der 80er-Jahre führt Hilti alle zwei Jahre Trainings zum Thema Unternehmenskultur, sogenannte Teamcamps, durch – und zwar mit allen 28.000 Mitarbeitern weltweit.

Dafür gibt es 75 interne Unternehmenskulturtrainer. Diese ehemaligen Hilti-Führungskräfte führen mit insgesamt rund 3.000 Teams alle zwei Jahre je zwei Tage lang in einem Hotel oder an einem anderen Ort außerhalb des Büros Trainings durch. Die Schwerpunkte ändern sich und werden von der Führungsriege – Vorstand und Verwaltungsrat – bestimmt. Baschera: „Die Top-Führung überlegt sich, was in den nächsten drei bis vier Jahren im strategischen und operativen Bereich die wichtigsten Herausforderungen sein werden.“ Themen können zum Beispiel sein, den unternehmerischen Geist zu stärken oder wie man im Unternehmen mit Situationen umgeht, in denen es viel Druck gibt. Wichtig dabei sei, „dass man darüber redet und Klarheit schafft, was uns im täglichen Leben wichtig ist“. Den Mitarbeitern auf diesem Weg eine gewisse Ausrichtung zu vermitteln sei bei Hilti „ebenso wichtig wie das Erreichen der finanziellen Ziele“.

WERTE IN DER KRISE

Natürlich gehe es immer auch ums Geld: „Die finanziellen Ziele sind notwendig und wichtig: Gewinn ist nicht alles, aber alles ist nichts ohne Gewinn.“ Doch wer es ernst meint mit langfristigen Werten, muss auch manchmal auf Geschäfte verzichten. Generell werden unsaubere Geschäfte – in der Baubranche keine Seltenheit – nicht durchgeführt. Baschera: „Wir haben vielleicht den einen oder anderen Umsatz verloren, aber ‚on the long run‘ ist das die richtige Politik. Es gibt auch Kunden, die sagen: Gerade weil ihr so konsequent seid, machen wir mit euch Geschäfte.“

Auch in der Weltwirtschaftskrise 2009/10, die auch Hilti gebeutelt hat, kamen die Werte zum Tragen. In manchen Ländern gab es enorme Einbußen – etwa in Spanien, wo innerhalb weniger Monate 70 Prozent des Marktvolumens wegbrachen. „Das war eine schwierige Situation. Wir waren es nicht gewohnt, Leute abbauen zu müssen.“ In dieser Zeit habe die Unternehmenskultur eine wichtige Rolle gespielt: „Wir haben uns gemeinsam mit der Familie Hilti entschieden, möglichst wenige Mitarbeiter abzubauen, damit wir bereit sind, wenn der Aufschwung wieder einsetzt. Dadurch hatten wir weniger Gewinn, als wenn wir mehr Leute abgebaut hätten. Aber das langfristige Denken ist entscheidend.“ Die Familie Hilti war bereit, in dieser Phase auf Dividende zu verzichten. Auch die kostspieligen Unternehmenskulturtrainings wurden beibehalten.

„Der Grund, warum man gern ins Unternehmen kommt, ist, weil man sich dort persönlich aufgehoben fühlt.“ Iris Ortner, IGO-Ortner-Gruppe

INTERNES UND EXTERNES MESSEN

Hilti gibt jährlich zehn Millionen Euro für die Unternehmenskulturtrainings aus und wendet 32.000 Arbeitstage pro Jahr dafür auf. Pius Baschera betont, dass sie als Investment und nicht als Kosten betrachtet werden, denn die Wirkung ist messbar – und wird auch gemessen. Zum einen intern über Zufriedenheitsumfragen unter den Mitarbeitern, wo auch Fragen bezüglich der Entwicklung der Unternehmenskultur gestellt werden; zum anderen extern über die Teilnahme an Wettbewerben wie „Best Place to Work“, wo Hilti regelmäßig Spitzenplätze erreicht.

Auch die IGO-Ortner-Gruppe mit Hauptsitz in Innsbruck kommt aus dem Baubereich. Das 1903 gegründete Unternehmen ist heute ein international agierender Verbund von Technologieunternehmen und führend in der technischen Gebäudeausstattung und im industriellen Anlagenbau. Durch Zukäufe ist die Gruppe in den vergangenen zehn Jahren stark gewachsen und hat derzeit rund 22.500 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter inklusive assoziierter und Gemeinschaftsunternehmen. Gerade in Zeiten, wo Unternehmen schnell wachsen, ist das konsequente Leben definierter Werte nicht selbstverständlich. Dennoch: Prominent auf der ersten Seite der Website der IGO-Ortner-Gruppe findet sich der Satz: „Alle Gesellschaften handeln nach jenen Prinzipien, die bereits für den Unternehmensgründer Ignaz Ortner vor mehr als 110 Jahren unerlässlich waren: Zuverlässigkeit, Loyalität und Vertrauen. Das sind die Werte, auf die Sie bei uns heute und in Zukunft zählen können.“

HYGIENEFAKTOR GELD

Iris Ortner, die das Unternehmen gemeinsam mit ihrem Vater und ihrer Schwester führt, hält dieses Wertebekenntnis in ihrer Branche für entscheidend: „Wir wissen alle, dass im Baubereich viel schiefgehen kann. Da ist es besonders wichtig, dass man mit Handschlagqualität agiert und seine Zusagen einhält – nicht nur im Umgang mit Kunden, sondern auch mit Lieferanten und Mitarbeitern.“ Eine Gruppe von Menschen werde nicht durch den Umsatz zusammengehalten, „sondern durch das, was diese Menschen dazu bringt, gemeinsam zu agieren“. Geld sei ein Hygienefaktor, denn jeder Mitarbeiter und jede Firma müsse Geld verdienen: „Aber der Grund, warum man gern ins Unternehmen kommt, ist, weil man sich dort persönlich aufgehoben fühlt. Erst dann kommt man zu seiner vollen Blüte.“

So habe das Unternehmen viele langjährige Mitarbeiter – manche seien schon mehr als 50 Jahre im Unternehmen, weil sie sogar weiterarbeiten, obwohl sie schon in Pension gehen könnten. Außerdem gebe es Mitarbeiter, deren Großeltern und Eltern schon im Unternehmen waren. Die IGOOrtner- Gruppe beschäftigt sechs Mitarbeiter, die aus einer einzigen Familie stammen. Daher betont Iris Ortner, dass man im doppelten Sinn ein Familienunternehmen sei.

FLEXIBILITÄT UND INNOVATION

In vielen Familienunternehmen werden Werte über Jahrzehnte hinweg hochgehalten. So habe Ortners Vater schon früh seinen Töchtern beigebracht, nachhaltig zu wirtschaften und das Geld – für schwierige Zeiten oder Chancen – im Unternehmen zu halten: „Er hat immer betont: Wachstum nie um des Wachstums willen!“ Dennoch sei es wichtig, neben konservativen Werten wie Zuverlässigkeit und Vertrauen auch vorausschauende Themen wie Flexibilität und Innovation zu fördern.

Im Unternehmensalltag bemüht sich Iris Ortner darum, das Wertebekenntnis mit Leben zu füllen. Ihr ist dabei besonders wichtig, persönlich zu bleiben: „Unsere moderne Zeit mit Kommunikationsmitteln wie E-Mail, Whatsapp und Co hat nichts daran geändert, dass der Mensch ein Wesen ist, das den persönlichen Kontakt und das Aufeinanderzugehen braucht.“ Iris Ortner suche, auch wenn es ihr nicht immer gelinge, möglichst oft das persönliche Gespräch: „Ich trete der Person gegenüber und will ihr auch bei schwierigen Themen in die Augen schauen.“

„Es gab sogar Leute, die eine Zeitlang auf ihr Gehalt verzichtet hätten.“ Robert Hartlauer, CEO Hartlauer

GUT AUFGEHOBEN

Die Unternehmerin ist überzeugt, dass sich die eigene Geisteshaltung, die zum Beispiel von Langfristigkeit und dem Zueinanderstehen auch in schwierigen Zeiten geprägt ist, auf die Mitarbeiter überträgt. Wer nur Zahlen im Kopf habe, würde über Menschen drüberfahren, die etwa durch eine Krankheit in einer Lebenskrise stecken. Auch sie selbst habe schon schwierige Zeiten durchgemacht: „Da tut es gut, wenn man sich in einer Gemeinschaft gut aufgehoben fühlt.“ Schwierig sei es für sie, an den Grundwerten festzuhalten, wenn sie das Gefühl habe, eine andere Person halte sich nicht an ebendiese Werte und sei etwa nicht loyal: „Dann ringe ich damit. Ich will zu meinen Werten stehen. Aber in manchen Situationen ist das eine Herausforderung.“

Auch der Elektronikhändler Hartlauer führt ein Familienunternehmen – und auch dort spielen langfristige Werte eine wichtige Rolle. CEO Robert Hartlauer erklärt: „Nicht die Produkte, nicht die Standorte, nicht die Werbekraft machen Hartlauer aus, sondern ausschließlich der Mensch.“ Und wer ist das? Auf der Website des Unternehmens finden sich unter der „Hartlauer-Philosophie“ neun Punkte, die sich alle auf den Kunden beziehen. Robert Hartlauer sagt, dass man diese noch von seinem Vater geschriebenen Punkte mittlerweile überarbeiten und den Mitarbeitern mehr Stellenwert geben sollte: „Eigentlich sollte man es umschreiben – aber leben tun wir es eh anders.“

LEISTUNGSTIEFS DURCHSTEHEN

Hartlauer, der vier Töchter hat und sich als Familienmensch bezeichnet, ist der Wert Loyalität besonders wichtig. Für ihn sei es selbstverständlich, wenn ein Mitarbeiter ein Leistungstief, eine Krankheit oder Probleme habe, diese Zeit mit ihm durchzustehen, sofern die Leistung nicht dauerhaft fehlt: „Dann frage ich die Person, warum das so ist und wie ich ihr helfen kann.“

Ob Werte nur Marketingschlagworte und Greenwashing sind, zeigt sich besonders in Krisen. Robert Hartlauer erzählt von einer wirtschaftlichen Krise des Elektronikhändlers Anfang der 1990er-Jahre. Damals haben Mitarbeiter die Firma verlassen, während sich andere entschieden haben zu kämpfen. Hartlauer: „Es gab sogar Leute, die eine Zeitlang auf ihr Gehalt verzichtet hätten, was Gott sei Dank nicht notwendig war.“ Aber das zeige die wertvolle Bereitschaft, zueinanderzustehen, wenn es einmal nicht so rosig läuft.

EIN FAN VON AUGENHÖHE

Ein anderer wichtiger Wert für Hartlauer, über den er auch mit seinen Mitarbeitern diskutiert, ist Demut: „Demut heißt, die Schöpfung als etwas Größeres zu erkennen.“ Dieser Punkt ist gerade im Handel eine Besonderheit, wo langfristige Werte und Mitarbeiterbindung nicht immer großgeschrieben werden. Hartlauer ist „ein großer Fan von Augenhöhe“ – egal, ob es sich um einen Lehrling oder einen langgedienten Mitarbeiter handelt.

Er hat über die Jahre auch dazugelernt, mehr Wert auf Werte zu legen. So gibt er Fehler, besonders gegenüber seiner Führungscrew, zu: „Ich habe teilweise genau das gesehen, was sie nicht können – und darauf hab ich hingehackt. Irgendwann habe ich begriffen, dass es viel schlauer ist, auf die Stärken zu achten und jeder Person ihren Stärken entsprechende Aufgaben zu geben.“

Manchmal endet das Leben von Werten nicht an der Unternehmensgrenze. Hartlauer nennt als Beispiel, dass er sich weigerte, Google Glass zu vertreiben: „Ich halte es für einen Horror, ständig überwacht zu werden und keine Privatsphäre zu haben. Ich habe gesagt: Ich werde das erst verkaufen, wenn die Leute permanent danach fragen. Aber ich werde den Trend nicht mittragen.“ Wenn Unternehmer eine größere Verantwortung übernehmen, können ihre Werte sogar wichtige gesellschaftliche Entwicklungen fördern.

DOS AND DON’TS

Dietmar Rößl, Professor und Institutsvorstand an der WU Wien, betont, dass Unternehmen die WERTEAURA NICHT AM REISSBRETT konstruieren, sondern sich fragen sollen, welche Werte sie tatsächlich leben: „Wenn man diese Ebene ans Tageslicht fördert, hat man die authentisch gelebten Werte explizit gemacht.“ Erst dann können sie von der Führung vorgegeben und nach innen und außen kommuniziert werden: „Dann stehen die Werte auch nicht im Widerspruch zu den bisherigen impliziten Erfahrungen.“

Pius Baschera von Hilti hält das COMMITMENT DER TOP-FÜHRUNGSEBENE für ein wichtiges „Do“: „Bevor man überhaupt auf diese Kulturreise geht, muss im Vorstand und Verwaltungsrat Einigkeit herrschen, dass man das will.“ Außerdem gehe es ums Vorleben: „Sie können kommunizieren und trainieren bis zum Umfallen: Wenn die oberste Führungsebene die Werte nicht vorlebt, ist das sogar kontraproduktiv.“

Als wichtig erachtet Baschera auch die KONSEQUENTE UMSETZUNG der Unternehmenskultur und das Verlinken mit den Geschäftsprozessen, vor allem in der Personalentwicklung: „Wenn wir Mitarbeiter einstellen, entwickeln und befördern, reden wir immer darüber, wie sie diese Werte leben, wie sie sich entwickeln. Klar muss ihre Performance stimmen, aber ebenso wichtig sind Fragen wie: Wo sind sie mutig? Sind sie integer?“

Zu guter Letzt müsse man auch MESSEN, OB DIE WERTE GELEBT WERDEN. So seien etwa die Teamcamps bei Hilti „Initialzündungen“. Danach müssten die dort behandelten Themen immer wieder in Sitzungen angesprochen werden, „auch in Situationen, in denen es nicht so läuft, wie wir das gern hätten – sonst werden sie vergessen“.