Mitarbeiterdiagnostik

Neu organisieren statt rekrutieren

Fachkräftemangel
04.10.2023

Bei der Suche nach Arbeitskräften lohnt ein diagnostischer Blick in die eigenen Reihen. Warum in die Ferne schweifen, wenn gute Leute vielleicht nur am falschen Platz sitzen?
Suche nach dem richtigen Mitarbeiter am richtigen Platz

Alle Welt beklagt den Fachkräftemangel. Der ist längst ein umfassender Arbeitskräftemangel, weil er alle Qualifikationen betrifft. Doch gleichzeitig sind Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer unzufrieden mit Führung, Job und Organisation. Frust mündet in Kündigung, Fluktuation, Produktionsverlust, Neubesetzungen, Onboarding – das Spiel beginnt von vorn. Unternehmen könnten viel Zeit und Geld sparen, würde jeder am richtigen Platz sitzen. Doch wie geht das?

Perspektiven bieten

Ein Ansatz kommt von der US-türkischstämmigen Talent-Relationship-Expertin Nilgün Aygen, DACH-Chefin von Profiles International und Gründerin der ValYouBel-Plattform. Sie appelliert, die bestehende Workforce akribisch auf ihre Passung zu Qualifikation, Job und Unternehmenskultur zu optimieren. Weil: „Mehr als die Hälfte aller Beschäftigten haben keine Ahnung von den Entwicklungs- und Beförderungschancen im Haus.“ Die meisten denken nur an Führungskarrieren und sind enttäuscht, wenn die nicht möglich sind: „In einer Bank habe ich gerade ein Assessment mit 27 Führungskräften von der zweiten bis zur vierten Ebene abgehalten. Mindestens die Hälfte hat keine Chance, jemals in den Vorstand zu kommen. Auch diese Leute müssen bei der Stange gehalten werden!“ Etwa mit Fachkarrieren, Rollenerweiterungen oder Job-Rotations. Die Kunst ist, jedem entsprechend seiner Möglichkeiten eine befriedigende Perspektive zu bieten. Um diese zu finden, nutzt Aygen dasselbe dreistufige System, das ihr auch bei Neurekrutierungen gute Dienste leistet.

Fähigkeiten abklopfen

Auf der ersten Stufe geht es um den „Skill Fit“, um die Hard Skills. Hat eine Kandidatin, ein Kandidat überhaupt die Qualifikationen, um die geforderte Leistung zu bringen? Von Abschlüssen und Diplomen hält Aygen wenig, besonders, wenn sie schon einige Jahre alt sind. Ebenso wenig traut sie Verbal- oder Social-Media-Behauptungen. Am eigenen Beispiel: „Ich kann gut Deutsch sprechen, aber mit dem Schreiben tue ich mir schwer. Das finden Sie aber nicht heraus, wenn wir nur reden.“ Solche Hard Skills lassen sich nachlernen. In diesem Beispiel muss man nur wissen, dass schriftliches Deutsch für eine Position wichtig ist. Das Abklopfen des „Skills Fit“ steht daher ganz am Anfang. Passen sie nicht und sind sie auch nicht aufrüstbar, braucht man gar nicht weiterzureden.

Adler, Enten, Pinguine

Auf der zweiten Stufe steht der „Job Fit“. Ist jemand für diese bestimmte Rolle geeignet? Egal wie gut die Hard Skills sind, eine introvertierte Kandidatin wird sich in einem Salesjob nicht wohlfühlen, ein konfliktscheuer Kandidat nicht im Management. Mit detaillierten Fragen klopft Aygen die Persönlichkeit ab, weiters mentale Fähigkeiten – wie Lerngeschwindigkeit, Informationsverarbeitung oder Problemlösung – und berufliche Interessen. Denn natürlich müssen interne Kandidaten von einer angebotenen Position genauso angetan sein wie externe. Während sich der Skills Fit trainieren lässt, stößt man beim Job Fit rasch an seine Grenzen: „Ich vergleiche das gern mit Adlern, Enten und Pinguinen. Adler sind großartige Flieger, aber sie können nicht schwimmen. Bei Pinguinen ist es umgekehrt. Enten wiederum können beides leidlich. Ich muss wissen, wen ich wo einsetze. Umschulen kann ich hier gar nichts.“

Mitsprache ermöglichen

Dir dritte Stufe gehört dem „Culture Fit“. Wie passen Kandidatin und Kandidat zur Unternehmenskultur, zu den Vorgesetzten und zum Team? Die beiden vorangegangenen Stufen sind stark an vordefinierten Benchmarks orientiert, „fast wie Risikomanagement“. Hier jedoch ist Bauchgefühl erlaubt: „Ich sage immer, wenn man mit jemandem nicht Mittagessen gehen will, sollte man ihn nicht einstellen.“ Das gilt auch für das Team: Es bei Neuzugängen nicht mitreden zu lassen kann sich bitter rächen.
Der große Unterschied zwischen Neueinstellungen und dem Versuch, Vakanzen durch kluge Rochaden mit bestehenden Leuten zu füllen, liegt für Aygen im Anforderungsprofil: „Bei Neueinstellungen muss das Anforderungsprofil sehr klar definiert und mit Benchmarks hinterlegt sein. Bei interner Weiterentwicklung geht es mehr um diese konkrete, uns schon bekannte Person und um ihr Potenzial. Für sie suchen wir die passende Rolle.“
Personalisten legt sie eine äußerst erhellende Frage ans Herz: „Welche fünf Dinge wollen Sie in diesem Leben noch tun?“ Kommt hier nur Berufliches oder nur Privates? Beides oder gar nichts? Schnell oder zögerlich? Sauber gegliedert oder bunt durcheinander? Aygen legt die Antworten dem Personalakt bei: als Anknüpfungspunkt für künftige Mitarbeitergespräche und um auch die Lebensentwicklung eines Mitarbeiters verfolgen zu können.

Was von einem selbst kommt, dafür engagiert man sich auch.

Hans Jorda, Jorda & Partners

Hans Jorda, Jorda & Partners
Hans Jorda, Jorda & Partners

Blick in die Seele

Einen anderen Ansatz verfolgt der Österreicher Hans Jorda. Der war lange Jahre Geschäftsführer der Personalberatung Neumann & Partners, bis er eine Diagnostikmethode fand, die ihn in die Liga der Unternehmensberater katapultierte. Nach dieser Methode arbeitet er jetzt im eigenen Unternehmen Jorda & Partners. Jorda konzen­triert sich hauptsächlich auf die erste und zweite Ebene, das Top-Management. Grob beschrieben – Details gibt er nicht preis – besteht sein „Colloquium“ (lat. für Zwiegespräch) aus zwei Fragenbatterien: eine für die Berufskompetenzen und eine für die Privatperson. Hier zielt der frühere Headhunter bewusst hinter die Teflonmaske, die Manager wie eine zweite Haut tragen. Jorda versichert, nach gebührendem Vertrauensaufbau immer ehrliche Antworten zur ungeschönten Persönlichkeit zu erhalten. Seine Probanden bekommen auch einiges zurück: „Erkenntnisse über sie selbst, die ihnen der beste Coach nicht verschaffen könnte. Die Ergebnisse sind unglaublich.“ In der Folge erweiterte er sein Colloquium für ganze Teams: „Wer erst einmal die Wahrheit über sich selbst sagt, sagt sie auch über seine ­Kollegen.“ Kein 360-Grad-Feedback, darauf legt er Wert. „Das bringt nur vorhersehbare und sozial erwünschte ­Antworten.“

Wahrheit sprechen

Im dritten Schritt fragt Jorda nach der Wahrheit über die Organisation – was ist gut, woran krankt es, was ist nötig, was fehlt. „Die Probanden sehen sich nun nicht mehr als Beurteiler oder Konkurrenten, sondern als Verbündete, die alles zum Besseren verändern wollen.“ Dementsprechend sprudeln ihre Ideen. Mit der Analyse ist es hier nicht getan. Es folgen Einzelfeedbacks, Mitarbeit am Konzept für Reorganisation und Umbesetzung – Ideen liegen genug am Tisch – und schließlich Workshops, in denen die Beteiligten ihre eigenen Vorschläge weiterentwickeln: „Was von einem selbst kommt, dafür engagiert man sich auch.“ Jorda erinnert sich an ein Unternehmen mit schwindelerregender Fluktuation und gravierenden Personalproblemen. Bereits ein halbes Jahr bastelte es an einem brauchbaren Organigramm: „Nach dem Colloquium war es in einem halben Tag perfekt.“ Angeblich ist es das bis heute – und die Leute sind mit Vollgas dabei.

Buchtipp

Um dem Fachkräftemangel zu begegnen, kommt es neben innovativem Recruiting und einer Strategie zur Mitarbeiterbindung auch darauf an, jedes sich bietende Potenzial zu nutzen, damit neue und bestehende Mitarbeiter dort eingesetzt werden, wo sie maximal leistungsfähig sind. Bei neuen Kandidaten ist das Standard, bei Stammbelegschaften aber eher die Ausnahme. Dabei gibt es tausende hochkompetente Menschen, die auf ihrer derzeitigen Position nicht abrufen können, wozu sie tatsächlich fähig wären. Um das zu können, brauchen sie einen Ort, an dem sie qualifiziert und selbstwirksam sind, an dem sie Bedeutung erleben und in ihrer Arbeit glücklich sind.