Supply Chain Intelligence

„Wir kennen Lieferketten nicht wirklich“

Lieferkettengesetz
04.10.2023

Pandemien, Kriege und Geopolitik bringen Lieferketten ins Wanken. Ein Forschungsinstitut will herausfinden, wie sie resilienter und nachhaltiger werden. Leiter Peter Klimek erklärt, welche Branchen man sich im Detail ansieht und warum das geplante Lieferkettengesetz Unternehmen zu viel abverlangt.
Peter Klimek vom ASCII im Porträt

Die Wirtschaft: Das Supply Chain Intelligence Institute Austria (ASCII) wurde erst vor wenigen Monaten gegründet. Warum braucht Österreich ein eigenes Forschungsinstitut, das sich mit Lieferketten beschäftigt?
Peter Klimek: Das Grundproblem ist, dass wir häufig die Lieferketten nicht wirklich kennen. Das „Intelligence“ in unserem Namen steht für Aufklärung. Wir versuchen, die strukturelle Sichtbarkeit der Lieferketten zu erhöhen: Welche Unternehmen machen in diesen Bereichen was? In welcher Region? Wir legen den Fokus auf Österreich, aber man kann Lieferketten nicht getrennt von der europäischen und globalen Ebene sehen.

Woran forschen Sie und ihr Team am ASCII? Uns interessieren alle lieferkettenrelevanten Probleme und hier systemische sowie sektorübergreifende Fragen wie: Was kann man tun, damit Lieferketten gesamtwirtschaftlich oder in einem Sektor besser funktionieren, also krisensicherer und nachhaltiger werden, ohne dass es auf Kosten der Wettbewerbsfähigkeit geht? Spezifische Sektoren schauen wir uns im Detail an, derzeit die Automotive-, die Halbleiter- und die pharmazeutische Industrie.

Geht es beim ASCII vor allem um Lieferketten-Themen, die volkswirtschaftlich relevant sind? Jetzt am Anfang sind wir damit beschäftigt zu erkennen, wie unsere Wirtschaft auf atomarer Ebene funktioniert, indem wir die Daten, die verfügbar sind, mit Datenanalyse so aufarbeiten, aufbereiten und verknüpfen, dass die Lieferketten sichtbarer werden. Aber die Ergebnisse unserer Forschung sollen auch relevant für die Industrie und Politik sein. Deshalb müssen wir sie in einen volkswirtschaftlichen Kontext einbetten. Wenn wir die Lieferketten-Systeme besser kennen, ist die Frage: So what? Was können wir konkret tun? Welche Policy-Hebel haben wir?

Können Sie das anhand eines Branchenbeispiels erklären? Bei der Halbleiterfrage etwa geht es um geoökonomische Aspekte. Zum Beispiel hat ASML aufgrund von Druck durch die USA keine Lithographie-Maschinen mehr nach China exportiert und China hat mit Export-Beschränkungen für bestimmte Rohstoffe reagiert, die für die Halbleiterproduktion wichtig sind. Um zu verstehen, welche Regionen wie stark davon betroffen sind, muss man die Lieferketten kennen. Kurz gesagt geht es um die Frage, welche strategischen Abhängigkeiten wir haben. Im Automotive-Sektor wiederum interessiert uns eher, wie dieser aussehen soll, wenn wir die grüne Wende vollziehen.

Was kann das ASCII hier beitragen? Ein E-Auto zum Beispiel braucht andere Komponenten und Zulieferer als ein fossiles Auto. Im ersten Schritt mappen wir die Wertschöpfungsketten. Wenn wir dann wissen, welche Produkte gebraucht werden, schauen wir, welche Firmen diese Produkte herstellen und wo diese sitzen. So können wir verstehen, wo wir in Österreich strukturelle Stärken entwickeln können, und auch, von welchen Ländern diese Firmen in den Zulieferbeziehungen strategisch abhängig sind.

Sie sind Komplexitätsforscher. Wieso sind Lieferketten ein Thema für die Komplexitätsforschung? Weil es hier um ein nicht einfach zu durchdringendes Netzwerk geht, das aus vielen kleinen Einzelteilen, also Firmen besteht, die die Atome der Wirtschaft sind. Das Ganze ist komplizierter als in der Physik, wo es häufig so ist, dass jedes Teilchen mit einem anderen auf dieselbe Art wechselwirkt. Das gilt für Lieferketten nicht, wo Details wichtig sind wie zum Beispiel: Wie viele Zulieferer habe ich für eine Komponente? Wo sitzen die? Wie lang muss ich warten? Welche Verhandlungsstärke habe ich? Zusätzlich ist es ein System, das regelmäßig Schocks wie Kriegen, Naturkatastrophen, Pandemien etc. unterworfen ist. Das alles sind komplexe Systemeigenschaften, die wir besser verstehen möchten.

Was sind die größten Risikofaktoren, die Lieferketten angreifbar machen? Mit der Globalisierung wurden Supply- Chains schlanker, was häufig auf Kosten einer Diversifizierung ging und dazu führte, dass sich Produktionsprozesse auf wenige Unternehmen konzentrieren. Ein Beispiel aus der pharmazeutischen Industrie: Es gibt nur eine Handvoll Fabriken weltweit, die den gesamten Bedarf an chemischen Ausgangsstoffen für Antibiotika abdecken. Wenn der Großteil der Antibiotika aus zehn bis 20 Fabriken kommt, ist das ein anfälliges System.

Was muss aus Ihrer Sicht das künftige Lieferkettengesetz leisten, ohne dass es KMU überfordert? Momentan ist geplant, dass Unternehmen je nach Sektor ihre eigenen Zulieferer prüfen müssen. Das Ziel ist, dass kleine Unternehmen vom Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz nicht betroffen sind, aber jedes kleine Unternehmen sitzt in so vielen Lieferketten größerer Unternehmen, dass sie nicht darum herumkommen.

Was wäre eine bessere Lösung? Wüsste man, wie die Lieferketten und Netzwerke ausschauen, könnte man sich, wenn bei einer Firma etwas ESG-Relevantes vorgefallen ist, automatisiert anschauen, welche Unternehmen an der Wertschöpfungskette der Firma sitzen und diese gleich über eine zentrale Clearing-Stelle warnen. Diese Stelle könnte die Überprüfung der Unternehmen in der Lieferkette übernehmen, anstatt die Unternehmen mit mehr Aufwand zu belasten.

Ist Regionalität „die“ Lösung, um Lieferketten krisensicher zu machen? Das ist ein Riesenthema. Uns interessiert, welche Wirtschaftsstruktur wir in den einzelnen Regionen haben, insbesondere im Land Oberösterreich, das uns zu einem Viertel finanziert und wo die Automobil-Zulieferindustrie relevant ist. Wenn es zum Beispiel über den Chips Act Mittel zu verteilen gibt, die man dazu verwenden kann, um Betriebsansiedlungen zu fördern, sollten das Firmen sein, die möglichst zur bestehenden Wirtschaftsstruktur passen. Das wollen wir näher verstehen: Welche Stärken haben wir? Und welche Skills bzw. Arten von Unternehmen brauchen wir noch, damit die Region insgesamt einen Benefit erreicht?

Was lässt sich generell vorhersagen und was nicht? Unser Begriff von Vorhersagbarkeit hat sich mehrmals revolu­tioniert. Das erste Konzept war, dass Systeme deterministisch und vorhersagbar sind, das heißt, wir kennen die Anfangsbedingungen und wissen, wie die Physik funktioniert. Dann wurde der Begriff mit der statistischen Mechanik, der Quantenmechanik und der Chaos-Theorie immer weiter aufgeweicht. Momentan stehen wir bei komplexen Systemen, wo Vorhersagbarkeit etwas anderes heißt: Vieles davon, was wir besprochen haben, ist auf Mikroebene nicht so vorhersagbar, dass es den Namen verdient. Aber Fragen, zu denen wir etwas sagen können, sind: Wenn diese und jene Art von Ereignis passiert, welche Sektoren sind dann die Gewinner, welche die Verlierer? Wir werden nicht wissen, welche fünf Prozent der Unternehmen bankrottgehen, aber wir können sagen: Die haben das höchste Risiko, und so viele wird es in dem Sektor erwischen. Das heißt, auf systemischer und sektoraler Ebene und aggregiert können wir Aussagen treffen.  

Zur Person

Peter Klimek leitet das im Frühjahr 2023 gegründete Supply Chain Intelligence Institute Austria (ASCII). Der Komplexitätsforscher hat theoretische Physik studiert und wurde einem breiten Publikum durch seine Analysen der Covid-19-Pandemie bekannt. Die Gründungsorganisationen des ASCII sind der Complexity Science Hub, das WIFO, das Logistikum der FH Oberösterreich und der Verein Netzwerk Logistik. Das ASCII stellt sich zur Aufgabe, wissenschaftliche Lösungen zu erarbeiten, um den Wohlstand der Gesellschaft durch resiliente und robuste Lieferketten zu sichern. Lieferketten sollen dabei auch sozial, ökologisch und wirtschaftlich nachhaltig gestaltet werden.